Der Triumphzug von Oslo nach Hannover: Wie ein Stern aufgeht und die Massen verzückt. Lena Meyer-Landrut durfte bleiben, wie sie ist.

Dunkle Schauerwolken ziehen über den Trammplatz in Hannovers Innenstadt. Aber niemanden scheint das an diesem Nachmittag wirklich zu stören. Aus allen Richtungen strömen Menschen mit fröhlichen Gesichtern herbei. Die "Jetlags", eine Coverband aus Hannover, spielen "Highway To Hell" und bringen die Menge in Wallung. Drinnen im Rathaus ist die Stimmung angespannter: Die zwei Damen und vier Herren des Repräsentations- und Sitzungsdienstes sind noch in der Nacht von Protokollchef Christoph Held angerufen worden und decken jetzt ein Dutzend Bistrotischchen mit Salzstangen, Chips und Erdnussflips ein. Hannover, oft als das "größte Dorf der Republik" geschmäht, ist jäh zur Musikhauptstadt Europas avanciert.

Die Menschen auf dem Platz - inzwischen dürften es 15 000 sein - jubeln. Auf den Großbildleinwänden können sie live verfolgen, wie einige Kilometer entfernt ihre Heldin Lena Meyer-Landrut aus der Sondermaschine steigt, von Niedersachsens Ministerpräsidenten Christian Wulff (CDU) mit Küsschen rechts und links und rund 3000 wartenden Fans begrüßt wird, um schließlich in einem Konvoi schwarzer Limousinen den Weg zum Trammplatz einzuschlagen. Der Ministerpräsident sieht glücklich aus. So als ob auch er ein bisschen gewonnen hätte. Lenas Mentor Stefan Raab schaut aus kleinen Augen ebenso glücklich drein; schließlich hat ja auch er gewonnen.

Oben auf dem Triumphbalkon des Rathauses werden die Blumenkästen von der Brüstung geräumt. Die weiß-roten Geranien entsprechen in etwa der Haushaltslage der Stadt; sie lassen die Köpfe hängen. Hier sollen die Massen Königin Lena huldigen, wenn es denn nicht regnet.

Dem Moderator sind die Sprechchöre der 40 000 nicht laut genug

Und dann trifft der Konvoi endlich ein. Lena betritt unter Jubel die Ratsstube, um sich in das Goldene Buch der Stadt einzutragen - zum zweiten Mal binnen zwei Monaten. Der Ministerpräsident steht rechts außen und schweigt. Der Oberbürgermeister erzählt, wer sich schon alles in das Goldene Buch der Stadt eingetragen habe. Die Scorpions, na klar, und auch Arnold Schwarzenegger. "I'll be back!", habe der kalifornische Gouverneur hineingeschrieben. Lena entscheidet sich für: "Wow! Verdammte Axt, ist das geil!"

Draußen skandieren die inzwischen rund 40 000 Menschen Sprechchöre, aber die sind dem ProSieben-Moderator Matthias Opdenhövel auf der Bühne nicht laut genug. "Hamburg konnte das gestern besser", schreit er ins Mikrofon und trifft damit den wunden Punkt. Nicht mal jubeln können sie in der gebotenen Lautstärke. Diese Provinzler. Um 17.03 Uhr läuft endlich der Vorspann der Live-Sendung. Stefan Raab kündigt seine Lena an: "Wir sind hier, weil wir euch mitteilen wollen, dass Deutschland den Grand Prix gewonnen hat", krächzt er ins Mikro. Und jetzt erscheint Lena auf der Bühne. Um 17.04 ist Hannover "Lena-City". Spontan greift sie sich das Mikrofon. "Deutsche Land, deutsche Land, ich liebe deutsche Land!"

Mehrere fette, graue Wolken erschauern und machen einen Umweg. Und dann singt sie noch einmal ihr Lied "Satellite", das seit der Nacht von Oslo auch Deutschlands Lied ist. Junge Mädchen schreien herüber: "Lena, wir lieben dich!"

Es ist kaum 20 Stunden her, dass die 19-jährige Abiturientin in der Telenor-Arena der norwegischen Hauptstadt ihre Garderobe Nr. 12 verlassen hatte - für den Auftritt, der Geschichte schreiben sollte. Den Weg zur Bühne musste sie allein gehen.

Um 22.36 Uhr, kaum dass die letzten Töne von Armeniens Eva Rivas verklungen sind, passiert Lena den Vorhang, der den Backstage-Bereich von der Bühne trennt. Was die mehr als 125 Millionen Fernsehzuschauer nicht sehen: Mit erstaunlich leichten Schritten, geradezu gelöst, nimmt Lena die letzten 30 Meter. Dann greift sie das Mikro, streicht sich mit der anderen Hand die Haare zurück und bezieht ihre Position. Nur Sekunden später startet das Halbplayback von "Satellite", nach 2:54 Minuten badet sie im Jubelsturm der 22 000 Besucher in der Halle.

Während die Abstimmung läuft, rutscht Lena unruhig auf ihrem weißen Lederhocker im Green Room direkt hinter der Bühne hin und her. Stefan Raab redet wie ein Boxtrainer auf seinen Schützling ein, als der Vorsprung zum Zweiten immer größer wird. Um 0.12 Uhr steht auch offiziell fest: "The Winner is ... ... Lena!"

Prinzessin Mette-Marit sagte ihr: "Du hast einen tollen Job gemacht"

Im Green Room wartet niemand Geringeres als Norwegens Prinzessin Mette-Marit auf sie, um ihr zu gratulieren. Die Prinzessin sagt begeistert: "Du hast einen tollen Job gemacht, wir sind beeindruckt. Ein toller Song."

Dann ruft die Pflicht. Um 1.04 Uhr betreten Lena und Raab mit den NDR-Verantwortlichen das Pressezelt. Hunderte Reporter und akkreditierte Fans aus aller Welt feiern Lena. Deutsche Leibwächter führen sie aufs Podium. Fähnchenschwenkend tänzelt Lena zu ihrem Sitzplatz, Raab spritzt lachend Champagner in Richtung Zuhörer, singt mit seinem Team seinen alten Gassenhauer: "Ich liebe deutsche Land, ich liebe deutsche Land ...", dann beginnt die Pressekonferenz der Gewinner.

"Hallo, ich bin Lena, 19 Jahre alt, aus Hannover - und ich habe gerade den Eurovision Song Contest gewonnen. Wahnsinn, das fühlt sich total irreal an!"

Um 1.10 Uhr folgt die zweite Überraschung des langen Abends: Stefan Raab verkündet, dass Lena 2011 ihren Titel verteidigen solle, er kichert, Lena kichert, aber: Der Plan, Lena im Finale in Deutschland erneut auftreten zu lassen, ist nach Abendblatt-Informationen durchaus ernst gemeint.

Dann noch ein Pflichttermin: die offizielle Aftershow-Party im Radisson Blu Hotel Plaza. Dort belagern Kamerateams und Fans die Siegerin. Ein Dauerfeuer an Fragen geht auf sie nieder. Nach wenigen Minuten wird sie erlöst: Um 2.34 Uhr schiebt sich der Tross aus Leibwächtern, Kameraleuten und Fans - Lena mittendrin - zu Mekados Grand-Prix-Song "Wir geben Party" die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Im Laufschritt gibt Lena ihr vorerst letztes Interview. Ihre Augen werden immer kleiner, aber sie lächelt tapfer weiter. Während sie in ihre Limousine steigt, verrät Norwegens Vorjahressieger Alexander Rybak dem Abendblatt, was er seiner Nachfolgerin rät: "Gar nichts. Sie ist die Beste, das weiß sie."

Von der Massenparty im Hotel geht es direkt zu einem geheimen Ort, an dem Lena, Raab und rund 30 Mitarbeiter seiner Produktionsfirma Brainpool unter sich feiern - ohne Kameras, ohne Reporter, ohne die immer gleichen Fragen nach Lenas Freund, nach ihrer Familie. Gegen 5 Uhr lässt sich Lena in ihr Hotel bringen. Ein paar Stunden schlafen, packen, frühstücken und nach neun Tagen zurück zum Airport. Das Abenteuer Oslo ist zu Ende. Lenas internationale Karriere fängt gerade erst an.