Das Lernen als Erwachsener neben dem Job setzt eine gute Organisation voraus, ebenso wie Unterstützung durch die Familie und den Arbeitgeber

Das stramme Tagesprogramm von Agnieszka Pötzsch will perfekt organisiert werden. Die 28-Jährige steht täglich um fünf auf, fährt um sechs zur Arbeit. Sie ist als Personalsachbearbeiterin bei D+S communication center tätig. Der Job endet um 14 Uhr. Dann hat die Mutter von zwei Kindern aber noch lange keinen Feierabend. Um 15 Uhr beginnt der Unterricht an der Staatlichen Abendschule vor dem Holstentor. Dort lernt Agnieszka Pötzsch momentan für ihr Abitur – täglich bis 19 Uhr. Um 20 Uhr ist sie wieder zu Hause. Ein langer Tag.

„Das zwingt zu Disziplin“, sagt die angehende Abiturientin, die ihre Schulzeit 2003 am Küstengymnasium Neustadt in Holstein mit dem Realschulabschluss beendete und eine Ausbildung zur Grafikerin an einer privaten Fachoberschule in Hamburg begann. Weil Zeichnen und Kunst ihr Hobby war. Neben ihrer Ausbildung jobbte die damals 21-Jährige bei D+S als Kundenberaterin am Telefon. Und sie merkte bald, dass der Grafikerberuf nicht für sie passte.

Es folgten Familiengründung und eine Pause durch die Geburten der jetzt fünfjährigen Tochter und des dreijährigen Sohnes, später Weiterbildungen im Job. Zu ihrer großen Überraschung entdeckte Agnieszka Pötzsch eine zunehmende Vorliebe für Zahlen und Mathematik. „Das hat mit meinem Job zu tun und mit den betriebswirtschaftlichen Kennzahlen in Betrieben. Außerdem habe ich mal in der Firma in das Ressourcen-Controlling reingeschnuppert.“ Daraus entstand der Wunsch, Wirtschaftsmathematik zu studieren. „Das ist mein großer Traum“, sagt die junge Frau, die das Lernpensum an der Abendschule gut bewältigt. Das trifft jedoch nicht auf jeden Schüler zu.

Etwa 50 Prozent brechen die Abendschule vorzeitig ab. Die meisten merken im ersten Jahr an der Schule, dass sie nicht mitkommen, weil die Schulzeit lange zurückliegt oder sie aus anderen Gründen wenig motiviert sind. Die meisten Schüler sind Mitte 20, einige auch wesentlich älter. Vereinzelt sogar über 60.

„Diese Schüler möchten sich beweisen, dass sie das Abitur schaffen“, sagt Verena Horlacher, die seit 2007 an der Staatlichen Abendschule am Holstentor unterrichtet. Sie arbeitet gern an der Schule, weil die Klassen sehr heterogen sind und die Schüler aus unterschiedlichen Kulturen kommen. „Das ist befruchtend und interessant“, sagt Horlacher, die Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde lehrt.

Die Schüler können zwischen Nachmittags- und Abendkursen wählen

Ein Teilnehmer, der zunächst seinen Hauptschulabschluss an der Abendschule gemacht hat, ist Clint Türkoglu. Der 31-Jährige kämpfte sich durch den Lehrstoff, machte später seinen Realschulabschluss und lernt jetzt für das Abitur. Seit vielen Jahren ein kompaktes Programm neben dem Job mit bald drei Schulabschlüssen. „Ich habe mich für die Schule entschieden, weil ich vorher keinerlei Bildung hatte. Mein erste Ziel war es, überhaupt einen Schulabschluss zu erlangen“, sagt Clint Türkoglu. Später habe er sich immer wieder neue Ziele gesteckt. „Mein nächstes Ziel ist eine duale Ausbildung, denn ich arbeite zwar als Zerspanungsmechaniker, jedoch ohne Ausbildung.“

Diese klare Motivation und Zielsetzung fehle allerdings bei anderen Schülern, sagt Verena Horlacher. „Sie kommen an die Abendschule und wollen mal einen Abschluss versuchen. Das reicht nicht.“ Eine gute Voraussetzung sei es, wenn der Schüler eine Idee hat, wohin es mit dem Abschluss später gehen soll. Denn der Lernstoff und das Lernen selbst seien nicht zu unterschätzen. Überdies helfe ein gutes soziales Netzwerk, zu dem gemeinsames Lernen mit anderen Schülern gehört. Horlacher: „Dann können sich die Schüler gegenseitig motivieren. Damit lassen sich etwaige Hängepartien gut bewältigen, zumal jeder unterschiedliche Lebenserfahrungen mitbringt.“ Auch diese könne Mitschülern helfen.

Sebastian Grobler brachte negative Erfahrungen aus seiner Schulzeit mit – er war als Schüler häufig demotiviert und fremdbestimmt. Der 28-Jährige machte an der Abendschule seinen Realschulabschluss und später sein Abitur – Letzteres bestand er mit der Note 1,7. Jetzt möchte er auf Lehramt studieren. „Sein Weg zeigt, wie Wertschätzung beflügeln kann“, sagt Verena Horlacher. Und sie hat noch eine interessante Erfahrung gemacht.

„Die Abendschüler, die besonders stark eingespannt sind in Beruf und Familie, schaffen ihren Schulabschluss bei uns am besten und sind zudem sehr gut organisiert.“ Wie Agnieszka Pötzsch: „Die Schule ist zeitlich gut vereinbar mit meinem 30-Stunden-Job und der Familie. Ohne Disziplin und ein sehr gutes Zeitmanagement geht es jedoch nicht. Außerdem ist die Unterstützung durch Familie, Freunde und Arbeitgeber sehr wichtig.“