Die Nordseewerke in Emden werden von einer Werft zum Windkraftzulieferer. Die Mitarbeiter wollen die Chance für ihre Jobs nutzen - mit viel Wehmut.

Die Liegeplätze sind gut gefüllt, ein Schiff reiht sich an das nächste. Ein Stückgutfrachter, ein Containerschiff, ein Patrouillenboot für den Zoll. Auf der Helling, dem Baufundament, liegt ein zweiter Containerfrachter, kurz vor der Fertigstellung. Das Deckshaus, das schon komplett vor dem Schiff steht, wird dieser Tage aufgesetzt. In den Montagehallen scheppern Stahlplatten. Bald läuft die 228 Meter lange "Frisia Cottbus" vom Stapel. So sieht eine gesunde Werft aus.

Die Mitarbeiter der Nordseewerke in Emden, hoch oben im Nordwesten Deutschlands, gäben viel darum, wenn dies die Realität wäre - ein Schiffbauunternehmen in der Blüte seiner Zeit, auf der Höhe seiner Fähigkeiten. Doch die Kulisse der Werft trügt. Der Stückgutfrachter und das bereits fertige Containerschiff sind "Auflieger", Frachter ohne Ladung. Das Zollboot wird Anfang Dezember abgeliefert, kurz darauf die "Frisia Cottbus". Der Frachter mit einer Kapazität von 3400 Containereinheiten (TEU) ist eines der letzten Containerschiffe, das in Deutschland gebaut wird - und das letzte der Nordseewerke. Wenn die "Frisia Cottbus" ins Hafenbecken geglitten, wenn sie an die Reederei Hartmann in Leer übergeben ist, wird auf dieser Helling vermutlich nie wieder der Kiel eines Schiffes gelegt werden. Die Werft hat keine Aufträge mehr, außer einigen Zulieferungen für U-Boote und einen Marineversorger. Der Schiffbau bei den Nordseewerken steht nach mehr als 100 Jahren vor dem Aus.

Man spricht über Opel und über Karstadt, über Quelle und über Karmann. Man spricht von einer Jahrhundertkrise an den Märkten und davon, dass bald schon die nächste Spekulationsblase zu platzen droht. Man spricht über den Verlust Zehntausender Arbeitsplätze, über Hunderte Milliarden Euro an Staatshilfen und Kurzarbeitergeld, damit nicht noch mehr Unternehmen und Jobs verloren gehen.

Die Werftbranche leidet eher leise, gemessen am Getöse um die wankenden Riesen der deutschen Wirtschaft, seien es Banken, Handelsunternehmen oder Industriekonzerne. Doch keine andere Industriebranche wurde in Deutschland so hart von der Krise der Finanzmärkte und des Welthandels getroffen wie der Schiffbau. Vor einem Jahr zählten die Stammbelegschaften der deutschen Werften noch 22 000 Beschäftigte. Das waren weniger Menschen als bei Opel in Deutschland arbeiten. Jetzt sind es noch 17 000, mit abnehmender Tendenz, schätzt der Verband für Schiffbau und Meerestechnik (VSM) in Hamburg. Hinzu kommt etwa die fünffache Zahl an Mitarbeitern bei den Zulieferunternehmen, die direkt von den Werften abhängig sind. Droht den Werften dasselbe Schicksal wie in den 70er- und 80er-Jahren der deutschen Elektro- und der Textilindustrie? Geht der deutsche Schiffbau unter dem Druck der asiatischen Übermacht bald endgültig in die Knie?

"Die Situation des Schiffbaus ist mit der früheren Lage der Elektro- oder der Textilwirtschaft hierzulande nicht zu vergleichen", sagt Werner Lundt, Hauptgeschäftsführer des Verbandes für Schiffbau und Meerestechnik (VSM) in Hamburg. "Die Stammbelegschaften auf den Werften sind zwar über die Jahrzehnte gesunken. Zugleich hat die Arbeitsteilung zwischen Werften und Zulieferern aber stark zugenommen. Und auf den Werften selbst hat sich die Produktivität der Mitarbeiter seit den 70er-Jahren verdreifacht."

Klein aber fein, so sah sich die Schiffbaubranche in Deutschland nach all den Rosskuren der zurückliegenden Dekaden. Mit einem Marktanteil von rund zwei Prozent war Deutschland zwar weit entfernt von den Marktführern Südkorea und Japan, die jeweils mehr als ein Drittel der weltweiten Schiffstonnage produzieren. Aber dieser Anteil genügte immerhin noch für den vierten Rang weltweit, hinter China, und für den ersten Platz in Europa. Der Auftragsboom in der Mitte dieses Jahrzehnts, vor allem bei den Containerschiffen, überdeckte die kritischen Töne, die es aus der Branche gab.

Dann traf die Wirtschaftskrise den deutschen Schiffbau mit voller Wucht: Dutzende Aufträge wurden im zurückliegenden Jahr storniert, der Auftragseingang kam praktisch zum Erliegen. Verbandsmanager Lundt sieht die Zukunft der deutschen Werftindustrie vor allem im Bau technologisch anspruchsvoller Spezialschiffe. Die Verbreitung von Branchenoptimismus ist seine Aufgabe, doch er verhehlt nicht, dass es für seine Industrie heute weit mehr offene Fragen als Antworten gibt. "Die Zeit nach der Weltwirtschaftskrise", sagt Lundt, "wird für den deutschen Schiffbau anders aussehen als die vor der Krise."

Im Backsteinhaus des Betriebsrats der Nordseewerke sitzen drei finster blickende Männer vor Tassen mit Ostfriesentee, drei Männer, mit denen man keinen Streit haben möchte. Der größte von ihnen, der mit 62 Jahren auch der älteste ist, beherrscht den Raum. Fritz Niemeier, ein Mann wie ein Kleiderschrank, mit einem Händedruck wie der kartoffelquetschende "Seewolf" und einer Stimme, die bei Kundgebungen kein Megafon braucht. Jahrzehntelang saß Niemeier für die Belegschaft der Nordseewerke im Betriebsrat und in Aufsichtsräten, vor einigen Wochen ging er in den Ruhestand. Doch er mischt sich noch immer ein, gemeinsam mit Erwin Heinks, seinem Nachfolger als Vorsitzender der Arbeitnehmervertretung, und mit dem Betriebsrat Klaas Everwien, die ihn an diesem Tag begleiten. Niemeiers Stimme hat Gewicht, gerade jetzt, in der schwersten Krise des deutschen Schiffbaus seit Jahrzehnten. Denn jetzt geht es um die Existenz der Arbeitsplätze.

Der Stahlbauunternehmer Rüdiger Schaaf, ein Mittelständler aus Rheinland-Pfalz, will die Nordseewerke vom Konzern ThyssenKrupp übernehmen, um dort künftig Stahlteile für Windkraftwerke zu bauen, die auf See wie auch an Land installiert werden. ThyssenKrupp sieht für den Bau von Handelsschiffen in Deutschland keine Chance mehr. Der konzerneigene Werftverbund TKMS mit den Nordseewerken, mit HDW in Kiel und Blohm + Voss in Hamburg zerfällt. Nur Kriegsschiffe sollen bei ThyssenKrupp auch in Zukunft gebaut werden. "Ich hätte mir einen anderen Abschied aus dem Betriebsrat gewünscht", sagt Niemeier. "Ein volles Auftragsbuch. Aber neue Aufträge, die wir schon sicher glaubten, sind geplatzt, und zu Beginn des Jahres wurden auch noch vier Containerfrachter storniert." Auch mit dem Bau von Fregatten und Korvetten ist es vorbei, diese Arbeit will ThyssenKrupp künftig bei Blohm + Voss konzentrieren.

1250 Arbeitsplätze gibt es bei den Nordseewerken noch. Etwa 300 Beschäftigte werden auf absehbare Zeit weiter für den Marineschiffbau von ThyssenKrupp arbeiten, der weitaus größere Teil aber künftig für den neuen Investor SIAG Schaaf. "Das ist eine Riesenchance für die Werft", sagt Niemeier. "Wir müssen so viel Know-how über die Offshore-Windkraftindustrie auf die Werft holen wie möglich und das ausbauen." Doch dass die Nordseewerke wohl keine Schiffe mehr bauen werden, will dem Veteran partout nicht in den Kopf. "Es gibt für die Werftindustrie auch in Zukunft so viel zu tun. Warum müssen barfüßige Kinder in Indien Schiffe abwracken, warum nicht professionelle Schiffbauer in Deutschland? Und warum soll ausgerechnet eine Hochtechnologiebranche wie der Schiffbau in Deutschland keine Chance gegen die Konkurrenz in China oder Südkorea haben?"

Die Betriebsräte hoffen, dass SIAG der Werft Brücken baut, hin zu einer besseren Zukunft - die vielleicht auch wieder Aufträge für Schiffe bringt, für technologisch komplexe Typen, die nach wie vor in Deutschland gebaut werden. "Der Bau von Containerschiffen kommt nicht wieder", sagt Klaas Everwien. "Beim Bau einfacher Handelsschiffe hatten wir im Prinzip schon lange keine Chance mehr gegen die Asiaten."

121 Jahre lang haben die drei Männer insgesamt bei den Nordseewerken gearbeitet, alle drei begannen als Lehrjungen auf der Werft und blieben dort. Allein Niemeier brachte es bis zum Vorruhestand auf 46 und ein halbes Arbeitsjahr im Unternehmen. Jobhopper, Mobilisten, "Flexibilitäter", wie man die biegsamen Beschäftigten in der modernen Arbeitswelt spöttisch nennt, ist keiner von ihnen je gewesen. Hier an der Nordsee ist ihr Platz. "Wir müssen das Wissen und die Fähigkeiten zum Schiffbau erhalten", sagt Erwin Heinks. "Viele von uns sind schon in der vierten Generation hier. Den Leuten geht es nicht nur darum, in Lohn und Brot zu stehen. Hier geht es um die Verbindung der Menschen zum Schiffbau, untereinander und auch zwischen den Familien. Das darf nicht verloren gehen."

Als Fritz Niemeier 1975 in den Betriebsrat gewählt wurde, sagt er, arbeiteten auf seiner Werft noch 5000 Menschen. Ein Viertel dieser Arbeitsplätze ist noch übrig. Die wollen sie verteidigen, die Drei von den Nordseewerken.

Ein Abend Ende September, in einem Hinterzimmer des Hotels Luisenhof in Hannover. Zwei Manager der ThyssenKrupp-Schiffbausparte TKMS und der Unternehmer Rüdiger Schaaf bitten zum Gespräch. Eine kleine Runde von Journalisten ist es nur, spontan eingeladen am Vortag. Nach Hannover, weil die Herren sowieso dort sind, um der Landesregierung von Niedersachsen ihre Pläne für die Nordseewerke zu erläutern. Für den "Übergang" auf der Werft, wie es TKMS-Chef Hans Christoph Atzpodien nennt, braucht man das Wohlwollen der öffentlichen Hand und vielleicht auch ein bisschen Geld.

ThyssenKrupp steigt in jenen Tagen aus dem Bau von Handelsschiffen aus. Der Abschied des Stahlkonzerns aus dem zivilen Werftgeschäft, der Verkauf der Nordseewerke und von Blohm + Voss in Hamburg, wirkt verschämt, so, als mühe sich jemand, einen Kaugummi unter der Schuhsohle zu entfernen. Die öffentliche Kommunikation dieses Vorgangs ist keine Glanztat, das weiß Atzpodien. Eine Alternative zum Verkauf sieht er trotzdem nicht: "Die Krise des Handelsschiffbaus hat die Nordseewerke besonders hart getroffen. Wir haben monatelang um neue Aufträge gerungen. Vergeblich."

Unternehmer Schaaf schlägt einen ganz anderen Tonfall an, mit pfälzischem Akzent, der an eine gute Brotzeit und halbtrockenen Weißwein erinnert. "Wir werden den Standort der Nordseewerke komplett nutzen, dort 40 Millionen Euro investieren und etwas Großes aufbauen", sagt der Selfmadeunternehmer. Der Wachstumsmarkt vor allem der Offshore-Windparks in der Nordsee ist sein Ziel, ein Zentrum für den Stahlbau will er in Emden errichten wie es bislang keins gibt. "Der Strukturwandel im Ruhrgebiet dauerte Jahrzehnte, in Emden kommt er quasi über Nacht. Diese Chance werden wir gemeinsam mit den Mitarbeitern nutzen. In drei bis vier Jahren werden die Nordseewerke eines der erfolgreichsten Werke unserer Gruppe sein." Das wiederum greift Atzpodien dankbar auf und stellt fest: "In gewisser Hinsicht ist der Schiffbau in Deutschland eine gewesene Industrie."