Der Winter zwingt die Binnenschiffer Jan und Maria Boll zu einer Pause auf Finkenwerder. Auch ohne die Kälte steht die Branche unter Druck.

Hamburg. Jan Boll öffnet die Tür in Socken. Warme Luft drängt aus seiner Wohnung auf dem Hauptdeck des Schiffes in die Eiseskälte nach draußen. Die "Fighter", ein 67 Meter langer Binnenfrachter, liegt in der zufrierenden Elbe am Anleger Aue-Hauptdeich auf Finkenwerder. Boll, 54, der Eigner und Kapitän des Schiffes, kann nichts tun, außer abzuwarten und auf höhere Temperaturen zu hoffen. Seit mittlerweile elf Tagen schon. Nebenan auf der anderen Seite der Schiffsbrücke liegen die Frachter "Sandra" und "Pritzerbe". An den benachbarten Anlegern haben Tanker der Reederei Dettmer und andere Binnenschiffe festgemacht.

Der Frost lässt die Flüsse in Deutschland gefrieren. Die Binnenschifffahrt auf Rhein und Ruhr, Weser und Elbe, auf etlichen Kanälen und Nebenflüssen kommt zum Erliegen. Auf den wichtigsten Wasserstraßen pflügen zwar Eisbrecher durch die Fahrrinnen, fünf allein im Hamburger Hafen. Aber die Spezialschiffe kümmern sich vor allem darum, die Bildung von Dämmen aus Eisschollen zu verhindern, an denen sich das Flusswasser aufstauen könnte. Zudem halten sie Hafenbecken wie in Hamburg frei und Notpassagen für Wasserfahrzeuge offen. Seeschiffe sind stark und stabil genug, um von der Nordsee bis in den Hamburger Hafen durchzukommen und wieder hinaus. Für die meisten Binnenschiffe aber herrscht bei Eisgang Zwangspause.

Boll bittet nach oben auf die Brücke. Der Steuerstand der "Fighter" sieht aus wie eine Mischung aus Arbeitsplatz und Wohnzimmer, was der kleine Raum letztlich auch ist. Handfunkgeräte liegen neben den Navigationsinstrumenten herum, Handbücher, Zigarettenschachteln und ein paar CDs. 840 Tonnen Zellulose muss Boll von Brake an der Unterweser in die Papierfabrik von Stora Enso nach Uetersen bringen. Mit dem Wetter hatte er in den vergangenen Tagen doppeltes Pech: "Durch den Ostwind herrschte Niedrigwasser. Deshalb konnten wir nicht von der Elbe in die Pinnau hinein nach Uetersen fahren", sagt der Kapitän. "Dann kam der Frost." Und mit ihm der Frust.

Seit 35 Jahren fährt Boll auf eigenen Binnenschiffen, sein Vater und sein Großvater haben ihm den Beruf vorgelebt. Boll hat in all diesen Wintern viele Eispausen zubringen müssen, mitunter dauerten sie wochenlang. Aber Routine macht die Lage für ihn nicht besser, denn die wirtschaftlichen Bedingungen in seiner Branche werden immer härter. Der Konkurrenzdruck im Transportgewerbe auf der Straße ist mittlerweile weithin bekannt. Die Binnenschiffer leiden, abseits der öffentlichen Wahrnehmung, eher still. Der Gütertransport auf Binnenschiffen in Deutschland stagniert bereits seit der deutschen Einheit im Jahr 1990 in einer Größenordnung zwischen rund 200 Millionen und 250 Millionen Tonnen im Jahr. Die Zahlen des fahrenden Personals gehen stetig zurück, auf unter 6000 Menschen im Jahr 2010. Parallel dazu sinkt auch die Zahl der Schiffseigner. Denn häufig werden die Binnenfrachter als Einschiffsreedereien im Familienbetrieb geführt.

+++ Eisbrecher im Hamburger Hafen +++

So ist es auch mit der "Fighter". Für die erzwungene Liegezeit bekommen Jan Boll und seine Frau Maria (50) keinen Cent Ausgleich: "Ich bin jetzt hier für Stora Enso ein schwimmendes Zelluloselager. Gratis", sagt Boll. Der Kapitän will nicht beziffern, wie hoch sein wirtschaftlicher Schaden Tag für Tag ist, Verdienstausfall und Betriebskosten für das Schiff. Auf dem Bug produziert der Dieselgenerator warmes Wasser. Den Strom bezieht das Schiff aus dem Landanschluss, für 50 Euro in der Woche. Normalerweise komme er mit 2000 Liter Brennstoff von Brake nach Uetersen, sagt Boll. Dieses Mal könne es leicht das Doppelte werden. Wenn das Schiff fährt, liefern die beiden Hauptmaschinen auch Strom und Wärme.

Zahlen über den wirtschaftlichen Schaden in der Branche kann auch der zuständige Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt in Duisburg nicht liefern. "Er hängt in jedem Einzelfall von der Schiffsgröße, der Besatzung und den Vereinbarungen ab, die zwischen Binnenschiffer und Kunden in der Industrie oder im Handel getroffen werden", sagt Verbandsgeschäftsführer Jörg Rusche. "Uns ist nicht bekannt, dass sich Versicherungen gegen solche Ausfallzeiten am Markt durchgesetzt hätten." Die Bremer Reederei Dettmer, spezialisiert auf den Transport von schwerem und leichtem Heizöl sowie von Diesel und Benzin, gibt den Verlust je Liegetag und Binnenschiff mit 1800 bis 4000 Euro an, abhängig von der Größe der Tanker.

Das Hauptproblem für die Schiffseigner ist, dass sie das Wetter und damit mögliche Ausfallzeiten nicht kalkulieren können. Der Verlust wächst mit jedem Tag. Maria Boll kommt die Treppe von der Wohnung herauf auf die Brücke. Das Wasser im Bad laufe nicht mehr. "Ist der Tank leer, oder ist irgendwo etwas gefroren?", fragt sie ihren Mann. Der muss sich gleich auf die Suche nach dem Fehler machen. Wärmer wird es an diesem Tag nicht mehr werden.

+++ Im Hamburger Hafen herrscht weiter Eiszeit +++

Seit vier Jahren fährt Maria Boll auf dem Binnenfrachter mit. Einen Angestellten, sagt Jan Boll, könne man sich bei dieser Schiffsgröße unter dem heutigen Konkurrenzdruck nicht mehr leisten. Die "Fighter" ist 83 Jahre alt, gebaut im Jahr 1929, dem Auftaktjahr zur bislang schlimmsten Weltwirtschaftskrise. Vor einigen Jahren haben Jan und Maria Boll den betagten Frachter erworben. "Für uns lohnt es sich nur, ein voll abgeschriebenes Schiff zu kaufen, das nicht wesentlich mehr als ein Auto kostet. Sonst könnten wir die Kosten nicht hereinfahren", sagt Boll.

Warten, lesen, die Wettervorhersagen und den Hafenverkehr abhören, hin und wieder die Lage auf dem Schiff inspizieren, so verbringen die beiden den Tag. Wenn sich die Liegezeiten noch länger hinziehen, würden sie gern mal nach Haren an der Ems fahren, in ihren Heimatort. Aber am Liegeplatz auf Finkenwerder bekommen sie ihr Auto nicht von Deck, das geht nur an bestimmten Plätzen im Hafengebiet. Dahin aber kommt man bei Eisgang mit der "Fighter" nicht ohne Probleme.

Jan Boll fährt bereits in fünfter Generation auf einem Binnenschiff, seine Familie hat in dem Gewerbe eine lange Tradition. Viele Familienunternehmen allerdings, die er kenne, würden die Binnenschifffahrt in absehbarer Zeit aufgeben, sagt Boll. Der wirtschaftliche Druck hin zu größeren, teureren Schiffen, aber auch wachsende Konkurrenz aus Osteuropa zwängen viele Familien zur Aufgabe. Auch sein Sohn habe kein Interesse daran, die Tradition fortzusetzen. Er habe Schiffbauer gelernt und erst kürzlich eine Stelle bei Deutschlands größter Werft Meyer in Papenburg angenommen. "Die fünfte Generation Binnenschifffahrt in unserer Familie", sagt der Kapitän im Eis der Elbe, "wird wohl die letzte sein."