Offiziell sind in Hamburg 75.127 Menschen arbeitslos. Doch die tatsächliche Zahl der Jobsuchenden liegt fast doppelt so hoch.

Hamburg. Rolf Steil nennt es ein kleines Wunder, fast zu vergleichen mit dem von Bern bei der Fußball-WM 1954. Zumindest muss der Chef der Arbeitsagentur Hamburg in seiner Statistik lange zurück blättern, um einen solchen Rückgang der Arbeitslosigkeit innerhalb eines Monats zu finden. Um 4038 Menschen ist die Zahl der Arbeitslosen in Hamburg im Mai im Vergleich zum Vormonat gesunken. "Das gab es zum letzten Mal im Mai 1979", sagt Steil. 75.127 Hamburger waren im vergangenen Monat arbeitslos gemeldet, 5,1 Prozent weniger als im April. Steil freut sich vor allem, dass alle Gruppen des Arbeitsmarktes von der Entwicklung profitierten und nicht nur Jobsuchende unter 25. "Die Zahl der älteren Arbeitslosen (ab 50 Jahre) sank um 4,2 Prozent, Langzeitarbeitslose zählen wir 3,8 Prozent weniger", sagt Steil. Auch bundesweit hat sich der Arbeitsmarkt erholt. Die Zahl der Erwerbslosen sank um 165.000 auf nunmehr 3,242 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von 7,7 Prozent entspricht. Doch diese Zahlen zeigen nur die halbe Wahrheit.

Viele Arbeitslose haben nur einen anderen Platz in der Statistik

Die Experten sind begeistert über den schnellen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Doch viele, die in der Krise Werkbank oder Schreibtisch räumen mussten, haben inzwischen nur einen anderen Platz in der Statistik eingenommen. "Damit gelten sie nicht mehr als offiziell arbeitslos, sondern als Arbeitssuchende", sagt Guido Raddatz von der Stiftung Marktwirtschaft. Eine statistische Zahl, die kaum einer wahrnimmt. Diese Arbeitssuchenden lernen Bewerbungen zu schreiben, machen einen Weiterbildungskurs oder absolvieren "Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung", verdingen sich als Ein-Euro-Jobber oder sind älter als 58 Jahre und gelten damit praktisch nicht mehr als vermittelbar. Rechnet man noch andere Entlastungsfaktoren wie Kurzarbeit, Altersteilzeit und jene Menschen hinzu, die schon die Kündigung in der Tasche haben, gibt es allein in Hamburg fast 145.000 Arbeitslose, fast doppelt so viele wie offiziell ausgewiesen. Gemessen an dieser Zahl läge die Arbeitslosenquote bei 15,7 Prozent und nicht bei 8,1 Prozent. In dem Statistik schonenden Sammelbecken aus Qualifizierungs- und Trainingsmaßnahmen finden sich nach der Krise immer mehr Arbeitslose wieder. Während die offizielle Arbeitslosenzahl im Jahresvergleich um fünf Prozent schrumpft, nehmen die Arbeitssuchenden um vier Prozent zu. Manche stecken bis zu zwei Jahre in einer beruflichen Weiterbildung und belasten solange nicht die Arbeitsmarktstatistik.

"Wir haben nichts zu verbergen", sagt Steil. Die Zahl der Arbeitssuchenden stehe ganz oben bei der monatlichen Arbeitsmarktstatistik. "Das Problem ist, dass diese Zahl im öffentlichen Bewusstsein keine Rolle spielt und die Entwicklung des Arbeitsmarktes nur an der offiziellen Arbeitslosenquote gemessen wird", sagt Peer Rosenthal von der Arbeitnehmerkammer Bremen.

Aus Sicht der Arbeitsagentur ist nur arbeitslos, wer dem Arbeitsmarkt unmittelbar zur Verfügung steht. "Viele finden ohne Hilfestellung keinen Job oder müssen sich auch erst wieder an einen regelmäßigen Tagesablauf durch Trainingsmaßnahmen gewöhnen", sagt Agenturchef Steil.

Wer Kurse besucht, zählt nicht mehr als arbeitslos

Manche fühlen sich in solche Kurse nur abgeschoben, andere müssen darum kämpfen wie Claudia Schlichting. Durch Kindererziehung war sie 15 Jahre aus dem Job und macht jetzt einen Computerkurs im kaufmännischen Bereich. "Ohne diese Qualifizierung habe ich keine Chance am Arbeitsmarkt", sagt sie. "Doch ich musste darum hart kämpfen." Sven Thieß hat schon mehrere Ein-Euro-Jobs hinter sich. Zuletzt besuchte er ein Bewerbungsseminar. "Das hat die Möglichkeiten der Stellensuche sehr intensiv gezeigt", sagt der 30-Jährige gelernte Großhandelskaufmann. "So findet man auch Stellen, die nicht öffentlich ausgeschrieben werden." Doch er glaubt nicht, dass das allein schon ausreicht. "Ich möchte mich gern noch in der Personalsachbearbeitung weiterbilden, um meine Chancen am Arbeitsmarkt zu erhöhen", sagt er. Bei allen Qualifizierungen sieht er sich dennoch als arbeitslos. "Mein Status ändert sich nicht, wenn ich einen Kurs absolviere. Für einen neuen Arbeitsplatz würde ich ihn sofort verlassen."

Über 10 000 Hamburger machen einen Ein-Euro-Job. Innerhalb eines Jahres hat sich ihre Zahl um 13 Prozent erhöht. "Hier geht es darum, sich vor allem wieder an regelmäßige Abläufe zu gewöhnen", sagt Steil. Das klingt nicht so, als könnten diese Arbeitslosen gleich morgen wieder in einen regulären Job einsteigen. "20 Prozent kommen so in einen anderen Job oder eine Bildungsmaßnahme", sagt Steil. Doch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt zu einem anderen Ergebnis. Rund zwei Drittel der Teilnehmer waren ausreichend qualifiziert. "Mehr als die Hälfte der Ein-Euro-Jobber wurde sogar als fit für den ersten Arbeitsmarkt eingeschätzt", sagt IAB-Expertin Anja Kettner. Immerhin stuft die Bundesagentur für Arbeit diese Gruppe als "nah am Arbeitslosenstatus" ein. Das heißt sie könnten schnell einen Job aufnehmen, wenn es entsprechende Angebote gäbe. Als arbeitslos zählen Ein-Euro-Jobber auch deshalb nicht, weil sie unter die Erwerbstätigen fallen.

Private Arbeitsvermittler entlasten die Statistik

Fast vervierfacht haben sich innerhalb eines Jahres in Hamburg die Teilnehmer in beruflichen Eingliederungsmaßnahmen. Darunter fallen jetzt auch Arbeitslose, die von der Arbeitsagentur an einen privaten Arbeitsvermittler verwiesen wurden. "Es ist nicht gerechtfertigt, wenn Arbeitslose bei privaten Vermittlern nicht mehr als Arbeitslose gezählt werden", sagt Alexander Herzog-Stein von der Hans-Böckler-Stiftung. "Bundesweit fällt die Zahl der Arbeitslosen so um 200 000 Menschen niedriger aus", sagt Tuchtfeld von der Commerzbank. "Doch es ist nicht gerechtfertigt zu sagen, dass die ausgewiesene Arbeitslosigkeit nur aufgrund eines statistischen Tricks niedrig geblieben ist." Zieht man jahreszeitliche Einflüsse ab, ist Arbeitslosigkeit immerhin seit elf Monaten gesunken. Nach dem größten Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik "stehen nur noch rund 80 000 Arbeitslose mehr als am Tiefpunkt im Oktober 2008 in der Statistik", so Tuchtfeld. Als besonders stabilisierend für den Arbeitsmarkt hat sich die rechtzeitige Einführung der Kurzarbeit erwiesen.

Dennoch ist auch bundesweit der Unterschied gravierend: 3,2 Millionen gelten offiziell als arbeitslos, aber 5,8 Millionen suchen einen Job.