Druck durch Politik, Krankenkassen und Konkurrenz aus dem Netz: Viele Hamburger Firmen mussten bereits aufgeben.

Hamburg. Im Wartezimmer einer Hamburger Arztpraxis. Patienten schniefen und husten. Wer nicht wegen einer Erkältung gekommen ist, fürchtet, von den anderen angesteckt zu werden. Winter ist Erkältungszeit und damit eine Hochphase für Apotheken, die ihre Gesundheitsprodukte gegen Schnupfen oder Husten verkaufen wollen. Das Geschäft brummt. Für rezeptfreie OTC-Mittel (Over the Counter), also Pillen oder Sprays, die über den Ladentisch gehen und nicht rezeptpflichtig sind, greifen die Deutschen in dieser Jahreszeit immer tiefer in die Tasche. Allein im vergangenen Jahr kletterte der Umsatz der OTC-Branche wegen des harten Winters auf knapp 7,5 Milliarden Euro. Das ist eine Steigerung von sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nicht nur Schnupfensprays, Halstabletten und Grippemittel sind bei den Arzneien, die der Verbraucher selbst bezahlen muss, die Umsatzbringer. Auch Produkte wie Nahrungsergänzungsmittel, Vitamintabletten oder Erkältungstees tragen zu den Erlösen bei.

Allein an Erkältungsmitteln gaben die Apotheken nach Zahlen des Marktforschungsunternehmens Insight Health im vergangenen Jahr mehr als 200 Millionen Packungen an die Kunden ab. Das ergab einen Umsatz von mehr als 1,3 Milliarden Euro. Für 2015 gibt es keine Prognosen, schließlich hängen die Erlöse der Branche sehr stark vom Wetter ab. Ist es mild, sinken die Absätze, während sie bei klirrender Kälte meist steigen. Der mit Abstand am häufigsten abgegebene Wirkstoff war im vergangenen Jahr mit mehr als 56 Millionen Packungen Xylometazolin. Das Mittel soll abschwellende Effekte in der Nase verursachen. In diesem Bereich lag der deutsche Hersteller Ratiopharm mit Abstand vor den Marken Nasic, Otriven, Aliud und Olynth.

„Natürlich kann man sagen, dass ein Schnupfen oder Husten mit oder ohne Medikamente sieben Tage dauert. Aber Nasensprays oder Hustenmittel können die Symptome lindern“, sagt Kai-Peter Siemsen, Präsident der Apothekerkammer Hamburg. Das Werben für frei verkäufliche Arzneien gehört zu seinem Beruf. „Vor allem Internetanbieter machen den alt eingesessenen Apotheken Konkurrenz“, so der Apotheker. „In Hamburg haben wir eine Schere, die immer weiter auseinandergeht. Viele der gut 430 Betriebe können gut von ihrer Apotheke leben. Dennoch haben wir seit drei bis vier Jahren einen Rückgang in der Hansestadt. Rund 60 Apotheken gaben in diesem Zeitraum auf oder mussten sogar Insolvenz anmelden“, sagt Siemsen. In den vergangenen Jahren haben die Politik und die Krankenkassen die Regularien geändert und den Apotheken Festpreise für Medikamente verordnet. Zuvor wurden die Betriebe prozentual am Umsatz für ein Medikament beteiligt.

„Vielen Betrieben fehlt der grundsolide finanzielle Mittelbau“, sagt Siemsen. Auch das sei ein Grund für die Insolvenzen. Der Branche könne der Umsatz beim Verkauf von OTC-Produkten helfen. Die Rendite liege im OTC-Bereich zwar mit 28 bis 29 Prozent deutlich höher als beim Verkauf von verschreibungspflichtigen Mitteln. „Aber damit erwirtschaften wir unsere Verzinsung zum Beispiel für das Lager, das wir für die Medikamente vorhalten müssen“, so der Chef der Apotheker.

Während Patienten mit den rezeptfreien Arzneien ihre Zipperlein kurieren, tobt hinter den Kulissen ein harter Kampf um Kunden, Synergien und Marktanteile. Vor allem der Pharmakonzern Bayer versucht, den Markt an sich zu bringen. In diesem Jahr verleibten sich die Leverkusener den OTC-Bereich von Merck ein und zahlten dafür 14,2 Milliarden US-Dollar. Für 460 Millionen Euro übernahmen sie zudem den chinesischen Pharmagiganten Dihon, der weltweit zu den Top Ten der OTC-Konzerne gehört. Damit ist das deutsche Unternehmen in der Rangliste zum zweitgrößten Hersteller von rezeptfreien Arzneien geworden. Der US-Konzern Johnson & Johnson, der auch ein Werk in Norderstedt hat, ist in der Rangliste der größten Anbieter mittlerweile auf Platz drei abgerutscht. Der US-israelische Pharmahersteller Perrigo verleibte sich in diesem Jahr den belgischen OTC-Hersteller Omega Pharma für 3,6 Milliarden Euro ein. Auch Bayer hat Appetit auf weitere Zukäufe.

Der OTC-Markt ist für den Konzern von steigender strategischer Bedeutung. Bayer-Chef Marijn Dekkers bezeichnete seinen Übernahmecoup als „Meilenstein auf dem Weg zum globalen Marktführer“. Doch ob das gelingt, muss sich erst zeigen. Denn der Abstand zum Marktführer GlaxoSmithKline ist immer noch groß. Zugekauft hat auch der Auftragsfertiger Aenova. Das Unternehmen übernahm Haupt Pharma für rund 200 Millionen Euro.

Die Beliebtheit der rezeptfreien Mittel bei den großen Pharmakonzernen hat viele Gründe. Das Geschäft mit Aspirin bis Alka-Seltzer ist für die Hersteller hoch attraktiv. Zwar sind die Gewinnmargen meist niedriger als bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, dafür ist das regulatorische Umfeld für Produkte im OTC-Markt seitens der Politik längst nicht so streng.

Anders als bei rezeptpflichtigen Medikamenten müssen die Hersteller von OTC-Produkten keine Rabattverträge mit den Krankenkassen abschließen oder eine Bewertung für neue Produkte einreichen, die den Zusatznutzen einer Substanz belegt“, sagt Michael Hensoldt, OTC-Experte des Pharmaspezialisten Insight Health. Die Vermarktung von rezeptfreien Mitteln sei stark vom Marketing getrieben. Der Markt wird also auch in Zukunft hart umkämpft bleiben. Den Apothekern dürfte egal sein, wer in der Pharmabranche übernommen wird. „Da ändert sich höchstens der Kundendienstmitarbeiter“, sagt Siemsen.