Seit 30 Jahren stellt sich Kerstin Rudek der Atomkraftlobby in den Weg. Die großen Energieversorger verdienten viel Geld mit der Kernkraft. Was soll mit dem gefährlichen Atommüll geschehen?

Hamburg. Die Positionen der Stromkonzerne zur Atomkraft hat Kerstin Rudek, 46, nie geteilt, im Gegenteil. Seit 30 Jahren stellt sich die gelernte Homöopathin im Wendland und am Atommülllager Gorleben der Atomkraftlobby in den Weg. Rudek, Mutter von sechs Kindern, war von 2007 bis 2012 Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, dem zentralen Kompetenzzentrum des Widerstandes gegen die Atomkraft.

Im Jahr 2012 nahm sie, nominiert von der Partei Die Linke, als Mitglied der 15. Bundesversammlung an der Wahl des Bundespräsidenten teil. Bis heute engagiert sie sich im In- und Ausland für ein Ende der Atomkraftnutzung und für die bestmögliche Beseitigung des radioaktiven Mülls. Um beides zu beschleunigen, gibt sie den Energieversorgern in einem Punkt sogar recht: „Wir brauchen – finanziell und beim Expertenwissen – ein möglichst großes Sammelbecken für die weitere Organisation des Atommülls“, sagt sie. „Wir dürfen bei der Handhabung und der Lagerung des radioaktiven Inventars nicht sparen.“

Das Risiko würde dann der Staat übernehmen

Die Diskussion über die Folgekosten der deutschen Atomkraftwerke wird derzeit eher unter der Hand geführt. Im Sommer meldete der „Spiegel“, dass die Stromkonzerne RWE, E.on und Energie Baden-Württemberg (EnBW) ihre Altlasten gern auf elegante Weise loswerden möchten. Die Unternehmen, hieß es, würden ihre Rückstellungen für den Abriss der Atomkraftwerke und für die Einlagerung des Atommülls in eine Art staatlichen Fonds einbringen. Im Gegenzug solle der Staat einspringen, wenn die Kosten für die Entsorgung stiegen. Bestätigt wurde das von den Konzernen nicht. Die Bundesregierung teilte mit, es gebe „keine Verhandlungen“ zu dem Thema.

Der Hintergrund des Vorstoßes ist heikel: Die Unternehmen, die jahrzehntelang viel Geld mit der kommerziellen Kernspaltung verdient haben, regten nichts anderes an als eine Art „Bad Bank“ für die Entsorgung ihrer Altlasten. Das Risiko würde dann der Staat übernehmen. Die Abwicklung des Atommüllproblems allerdings erstreckt sich nicht über einige Jahre, wie bei der Sanierung abgewirtschafteter Banken, sondern über Jahrhunderte – mindestens.

In den unterirdischen Kavernen lagern insgesamt 631 Fässer

Und mit jedem Jahr wird offensichtlicher, wie sehr die Strombranche mit der Handhabung des Atommülls heute schon überfordert ist. Nicht zuletzt die Bilder ferngesteuerter Kameras aus dem stillgelegten Atomkraftwerk Brunsbüttel an der Unterelbe belegen das. Mehr als 100 von bislang 335 untersuchten Stahlfässern mit schwach- und mittelaktivem Atommüll weisen schwere Beschädigungen auf, teilte das Umweltministerium von Schleswig-Holstein Mitte Oktober mit.

In den unterirdischen Kavernen lagern insgesamt 631 Fässer, die der frühere Betreiber, Hamburgs einstiger staatlicher Stromkonzern HEW, dort seit den 70er-Jahren wohl einfach vergessen hatte. Wie der heutige Eigner Vattenfall, Rechtsnachfolger der HEW, mit der Entsorgung der radioaktiven Brühe umgeht, wird sich zeigen. Auch im Fasslager von Gorleben für schwach- und mittelaktiven Müll wurde in jüngerer Zeit wieder Feuchtigkeit entdeckt. Ende der 90er-Jahre hatte man das damalige Inventar an korrodierten Fässern in einer aufwendigen Aktion in das ehemalige DDR-Atommülllager Morsleben gebracht und dort deponiert.

In Frankreich und Großbritannien stehen Castorbehälter, die nach Deutschland zurückmüssen

Es läuft nicht rund bei der Atommülllagerung in Deutschland. Schon in den 80er-Jahren scheiterte die Strombranche mit dem Konzept, Brennelemente aus deutschen Atomkraftwerken im eigenen Land „wiederaufzuarbeiten“, Plutonium und Uran aus den benutzten Elementen chemisch zu extrahieren und es in Mischoxidbrennelementen wiederzuverwenden. Pläne für eine Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben scheiterten ebenso wie später die Anlage im bayerischen Wackersdorf am Widerstand von Anrainern und Atomkraftgegnern.

Die Stromversorger ließen die Wiederaufarbeitung eine Zeit lang im französischen La Hague und im britischen Sellafield betreiben, bis die rot-grüne Bundesregierung das im Jahr 2000 verbot. Noch immer aber stehen in Frankreich und Großbritannien gut 50 Castorbehälter mit hochradioaktivem Atommüll, die nach Deutschland zurückmüssen. Bislang gingen diese Behälter ins Zwischenlager Gorleben.

Doch dort sollen laut Bundesregierung keine weiteren mehr eingelagert werden. Schon 2015 könnten Briten und Franzosen auf die Rücknahme des Mülls drängen. „Dann werden wir sehen, was die Zusicherungen der Bundesregierung wert sind“, sagt Rudek. „Die Betreiber der Atomkraftwerke haben sich bislang nicht um Genehmigungen für eine alternative Lagerung bemüht. Wenn der Castor wieder rollt, werden wir Widerstand leisten.“

In den Salzstock dringt Wasser ein

Beim schwach- und mittelaktiven Müll sieht es nicht besser aus. Das ehemalige DDR-Endlager Morsleben in Sachsen-Anhalt ist in Stilllegung, begleitet von erheblichen Konflikten um die Sicherheit der Anlage und um die Transparenz dessen, was dort tatsächlich eingelagert worden war. Die Evakuierung der maroden niedersächsischen Schachtanlage Asse – dort lagern 126.000 Atommüllfässer – kann noch Jahrzehnte dauern.

In den Salzstock dringt Wasser ein. Die Kosten sind bereits von einst geplanten 2,5 Milliarden auf sechs Milliarden Euro gestiegen. Die Inbetriebnahme des Schachtes Konrad in Salzgitter als zentrales deutsches Endlager für schwach- und mittelaktiven Atommüll verzögert sich seit Jahren, derzeit steht 2022 zur Eröffnung im Terminkalender.

Besonders problematisch aber ist die Zukunft des hochradioaktiven Atommülls, des ehemaligen Brennstoffs aus den Atomreaktoren und dessen Begleitsubstanzen aus der Wiederaufarbeitung. An den Zwischenlagern der deutschen Atomkraftwerke sowie in den zentralen Zwischenlagern Gorleben und Ahaus in Nordrhein-Westfalen stehen bislang mehr als 1000 Castor-Behälter, einige Hundert kommen in den nächsten Jahren noch hinzu.

Wir werden aber nur eine Lösung finden, die nach unserem heutigen Wissen die beste ist

Das Bundesamt für Strahlenschutz kalkuliert, dass nach dem Ende der Atomkraftnutzung in Deutschland – bis 2022 soll der letzte Reaktor vom Netz gehen – insgesamt etwa 28.000 Kubikmeter hochradioaktiver Müll angefallen sein wird. Doch wohin damit?

Die jahrzehntelange Politik- und Demonstrationsschlacht um Gorleben führte dazu, dass die Bundesregierung das Suchverfahren in Absprache mit den Ländern 2013 noch einmal neu startete. Eine Vorfestlegung auf Gorleben und das dortige „Erkundungsbergwerk“ im Salzstock gibt es nicht mehr. Hochkarätig besetzte Gremien sollen bis 2015 Suchkriterien erarbeiten und klären, wo in Deutschland geeignete geologische Formationen in Salz-, Ton- oder Granitblöcken zu finden wären. Bis etwa zum Jahr 2030 sollen verschiedene Standorte dann „ergebnisoffen“ geprüft werden.

Im Kern geht es um die Frage, wo und wie Atommüll mit einem Zeithorizont von einer Million Jahren sicher gelagert werden kann – so lange dauert es, bis die radioaktive Energie bestrahlter Brennelemente und ihrer Begleitstoffe weitgehend abgeklungen ist. „Wir haben ein riesiges Problem – und tun so, als ob wir es mit den Bordmitteln der Gegenwart für immer lösen“, sagt Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck, der Mitglied der Endlagersuchkommission ist. „Wir werden aber nur eine Lösung finden, die nach unserem heutigen Wissen die relativ beste ist. Mehr nicht.“

Die Stromkonzerne haben insgesamt rund 36 Milliarden Euro Rückstellungen gebildet

Bis zur Findung eines Endlagers können noch Jahrzehnte vergehen. An jedem anderen möglichen Standort in Deutschland ist der gleiche heftige Widerstand der Anwohner zu erwarten wie im Wendland. Was bis dahin mit den Castor-Behältern in den zahlreichen oberirdischen Zwischenlagern geschieht, ist offen. Die Behälter sind vor allem dafür ausgelegt, die benutzten Brennelemente und die Reststoffe aus der Wiederaufarbeitung abkühlen zu lassen, die eine hohe Restwärme abgeben. Das ist unumgänglich, bevor der Atommüll unterirdisch eingelagert werden kann. Dauert die Zwischenlagerung länger als 40 Jahre, stellt sich die Frage, wie haltbar die Castoren sind.

Die Stromkonzerne RWE, E.on, EnBW und Vattenfall haben insgesamt rund 36 Milliarden Euro Rückstellungen gebildet, um die Atomreaktoren nach dem Ende ihres Betriebs „rückzubauen“, um das strahlende Inventar an schwach-, mittel- und hochaktivem Müll unter die Erde zu bringen. Jedem Beobachter der Branche ist klar, dass diese Summe wohl nicht im Ansatz reichen wird, um die Jahrhundertaufgabe zu bewältigen. Zumal den einst mächtigen Konzernen im Zuge der Energiewende hin zu einer dezentralen Versorgung derzeit das Geschäftsmodell wegbricht und damit auch die Gewinne.

Vattenfall verklagte die Bundesrepublik vor dem Internationalen Schiedsgericht

Was geschieht mit den Rückstellungen im Falle von Insolvenzen? Innerhalb weniger Jahre hat sich die Situation für die Branche völlig verändert – vor dem Hintergrund einer Aufgabe, deren Zeithorizont über die menschliche Vorstellungskraft weit hinausreicht. Auch aus diesem Grund kann Kerstin Rudek dem Modell eines staatlich gestützten Entsorgungsfonds viel abgewinnen: „Die Bürgerinnen und Bürger werden für die Entsorgung des Atommülls aufkommen müssen“, sagt sie. „Egal, ob über die Stromkosten oder als Steuerzahler.“

Vattenfall setzte in dieser Lage jüngst einen ganz anderen Akzent. Das Unternehmen verklagte die Bundesrepublik vor dem Internationalen Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten auf 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz – Entschädigung für die Stilllegung der Vattenfall-Atomkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel im Zuge des Atomausstiegs 2011.