Shila Begum leidet noch heute unter dem Textilfabrikeinsturz vor einem Jahr in Bangladesch. Nun war sie in Hamburg

Hamburg. Mit leerem Blick sitzt Shila Begum bei der Pressekonferenz im Museum der Arbeit, die rechte Hand in einer Kunststoffmanschette, manchmal fallen der kleinen Frau mit den welligen schwarzen Haaren die Augen vor Erschöpfung kurz zu. Die Näherin aus Bangladesch gehört zu den Opfern des Fabrikeinsturzes im Rana-Plaza-Gebäude in Bangladesch vor einem Jahr. Bangladesch ist nach China der wichtigste Textilexporteur für alle großen Modekonzerne, nachdem in anderen Billiglohnländern die Arbeitskosten zuletzt gestiegen sind. Die Branche beschäftigt vier Millionen Menschen, vor allem Frauen. Oft sind die Arbeitsbedingungen miserabel, lange Schichten an sechs Tagen pro Woche nicht selten.

Shila Begum ist nach Hamburg gekommen, um im Rahmen einer Europatour auf die schleppend eingehenden Zahlungen an die Hinterbliebenen der 1100 Todesopfer und die Näherinnen aufmerksam zu machen, die noch heute unter den Folgen des Unglücks leiden. Mindestens 28 westliche Firmen wie KiK, Adler oder Benetton, auch Abnehmer aus Hamburg, hatten in der Fabrik Kleidung herstellen lassen, und bis heute schieben etliche der Unternehmen die Verantwortung an den Zuständen in der Produktion weit von sich.

Shila Begum wird den Tag, an dem sich ihr Leben für immer veränderte, nie vergessen können. 16 Stunden lang schwebte sie zwischen Leben und Tod. Noch am Nachmittag vor dem Einsturz des neunstöckigen Gebäudes hatten die Arbeiter Risse in den Wänden gesehen und waren am nächsten Morgen nur unter Drohungen der Fabrikleitung zur Arbeit gekommen. Diejenigen, die sich nicht ins Gebäude trauten, wurden mit Schlägen an den Arbeitsplatz getrieben und mit der Warnung, man würde ihnen ansonsten zwei Monate lang das Gehalt streichen. Als dann alle an der Nähmaschine saßen, sei der Strom ausgefallen, erzählt Shila Begum. Dann ein Knall, ein Beben, ein Schlag auf die Hand, eine Maschine ist der Näherin auf den Arm gefallen. Sekunden später bricht die Decke ein, Trümmer stürzen auf ihren Bauch, der Schmerz lässt sie für Stunden zwischen Wachen und Bewusstlosigkeit liegen, bis Retter die Verschütteten aus den Betonbergen ziehen.

„Ich habe Gott um Hilfe gebeten und gedacht, was wird aus meinem Kind?“, sagt Shila Begum mit leiser Stimme, der Dolmetscher übersetzt ins Deutsche. In mehreren Krankenhäusern seien die inneren Verletzungen behandelt worden, die rechte Hand kann die Näherin aber noch immer nicht richtig bewegen, sie ist durch die Katastrophe, bei der auch 1500 Kollegen von ihr zum Teil schwer verletzt wurden, berufsunfähig geworden. „Heute leben wir auf den Schultern unserer Verwandten“, berichtet die Arbeiterin, nach dem Tod ihres Mannes alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter. Hilfe für einen neuen Start ins Leben sei bisher praktisch ausgeblieben.

Für Frauke Banse von der Kampagne für saubere Kleidung, die den Europabesuch der Näherin und einer Gewerkschafterin organisiert, ist die Weigerung etlicher Auftraggeber aus dem Westen, sich an dem Entschädigungsfonds zugunsten der Opfer von Rana Plaza zu beteiligen, nicht hinnehmbar. „Die Firmen sind aufgefordert, endlich in den Entschädigungsfonds einzuzahlen“, fordert Frauke Banse.

Mindestens 40 Millionen Dollar würden benötigt, um die Hinterbliebenen und Verletzten zu entschädigen. Bisher seien nur 15 Millionen Dollar eingezahlt worden, unter anderem von KiK, Primark und C&A. Die Firma Güldenpfennig, unter anderem ein Zulieferer von Aldi und Otto, habe in den vergangenen Tagen Zahlungen in Aussicht gestellt. Deutsche Unternehmen wie Adler Modemärkte, NKD, KANZ/ Kids Fashion Group verweigerten bisher aber jede Zahlung. Wie aktuell das Thema der zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen auch ein Jahr nach dem bisher größten Unglück in einer Fabrik in dem asiatischen Land ist, zeigen die vergangenen Tage: Vier Fabriken wurden komplett und zwei weitere teilweise geschlossen, wie die Behörden mitteilten. Es waren erhebliche Baumängel festgestellt worden.

Im Folgenden beleuchten Branchenexperten und Menschenrechtler die derzeitige Lage in der Industrie.

Wie viel verdienen die Mitarbeiter in den Billiglohnländern?

In Bangladesch ist der seit Januar vereinbarte Mindestlohn mit rund 50 Euro im Monat noch viel zu gering, beklagen internationale Organisationen zum Schutz der Menschenrechte. „Es hat dagegen viele Proteste in Bangladesch gegeben“, sagt auch Gisela Burckhardt, die derzeit an einem Buch über die Region arbeitet. In Kambodscha streiken die Arbeiterinnen für höhere Löhne. Sie wollen über 100 Euro pro Monat.

Wie würde ein fairer Lohn aussehen?

Der Monatslohn einer Näherin in Bangladesch müsse bei 250 Euro liegen, um eine vierköpfige Familie ernähren zu können, sagt Autorin Burckhardt, die auch Vorsitzende des Vereins Femnet ist, der die Arbeitsbedingungen für Frauen verbessern will. Nur die Hälfte aller Fabriken in dem Land habe den Mindestlohn im Januar und Februar 2014 aber überhaupt ausgezahlt. Viele Besitzer erklärten, sie könnten ihn nicht zahlen, da die Einkäufer niedrigere Preise böten als früher.

Welche Hersteller lassen in Bangladesch produzieren?

Es gibt praktisch keine namhaften Unternehmen, die dort nicht fertigen lassen, sagt Gisela Burckhardt. Dazu gehören neben H&M oder C&A auch Anbieter teurerer Marken wie Boss oder Ralph Lauren. Ausnahmen wie Trigema, die nur in Deutschland produzieren, sind sehr selten.

Haben Verbraucher überhaupt Transparenz über die Bedingungen?

Es ist nicht selbstverständlich, über das auf dem Produkt aufgedruckte Herkunftsland hinaus Informationen zu bekommen. Hersteller wie Adidas, Puma und H&M veröffentlichen inzwischen die Namen ihrer Lieferanten in aller Welt. Konzerne wie Otto verzichten auf diese Informationen für die Öffentlichkeit nach wie vor. Otto verfolgt die bei den Händlern weit verbreitete Praxis, sich die Ware von zwischengeschalteten Firmen liefern zu lassen, unterhält also oft keine direkten Beziehungen zu den Fabriken. Auch bei Adler ist dies üblich.

Welche Unternehmen sind denn dann die „Guten“, welche die „Bösen“?

Wenn eine Firma Mitglied bei der Fair Wear Foundation ist, lässt sie sich auf einen glaubhaften Verifizierungsprozess ein, lobt Frauke Banse. Die Kriterien würden von einer Initiative mit mehreren Interessenvertretern bestimmt, allerdings werde hier ebenfalls ein Existenz sichernder Lohn nur angestrebt und sei nicht Fakt, sagt Banse. Dasselbe Problem bestünde bei dem Textilsiegel GOT, einem Label für ökologische und sozial verantwortliche Produktion von Kleidung. Beim Überwachungs- und Qualifikationssystem BSCI engagierten sich inzwischen fast alle großen Bekleidungshersteller und Discounter. Die Mitglieder bürdeten die Kosten für die Kontrollen aber den Fabriken auf.

Durch Korruption werden bessere Standards oft unterlaufen?

Wenn sich Unternehmen aus den Industrieländern auf Kontrolleure aus China oder Indien verlassen, kann dies schnell ins Leere laufen: Der Kontrolleur lässt sich von der Fabrikleitung bestechen und bescheinigt dem Unternehmen einen ordnungsgemäßen Standard, ohne geprüft zu haben, berichtet eine Insiderin aus der Prüfbranche: „Die Zertifizierungen werden gekauft.“

Laufen die Kontrollen ins Leere?

„Man hat diesen Eindruck“, gibt Waltraud Waidelich von der Kampagne für saubere Kleidung zu und nennt ein Beispiel: Selbst die Zertifizierung einer Produktion nach dem strengen Standard SA 8000, der unter anderem vom TÜV Rheinland beworben wird, kann nichts wert sein: Die Fabrik Ali Enterprises in Pakistan ist abgebrannt, obgleich sie diese Standards erfüllt.

Wie ist die Situation heute?

Auch heute noch arbeiten die Beschäftigten in den Nähfabriken zu Hungerlöhnen und erwirtschaften gleichzeitig einen Großteil des Exportvolumens des ganzen Landes. Würden die Unternehmen wenigstens ihre Löhne etwas erhöhen, könnten die Näherinnen und ihre Familien in Würde leben.