Abendblatt-Serie: Wo kommt unser Essen her? Die 19. Reise führt ins rund 7000 Kilometer entfernte Dutch Harbor, wo riesige Fabrikschiffe den Alaska-Seelachs anlanden.

Dutch Harbor. Aus allen Himmelsrichtungen drückt der Sturm die Schiffe gegen das Land. Eiskaltes Meerwasser peitscht gegen ihre metallenen Bäuche, die Gischt ergießt sich in hohen Wellen über den steinigen Strand. Eigentlich ist Dutch Harbor im äußersten Nordwesten Alaskas nichts anderes als ein einziger, salzverkrusteter Hafen. Hunderte Weißkopf-Seeadler leben hier, mehr als Tausend Fischer - und Abermillionen Exemplare eines Tieres, von dem die Zukunft dieses unwirklichen Ortes abhängt: der Alaska-Seelachs. Der Lieblingsfisch der Deutschen, der in gut 300 Meter unter dem Meeresspiegel in der Beringsee zu Hause ist.

Vom Rambazamba auf der tobenden Wasseroberfläche bekommt er dort nur wenig mit. Die Beringsee gilt als eine der gefährlichsten Regionen der Welt, ihre meterhohen Wellen und heftigen Stürme waren schon Hollywood-Autoren und Romanschreibern dankbare Kulisse für Helden- und Schicksalsgeschichten. Neben all dem ist die Beringsee aber auch eines der fischreichsten Gewässer der Welt - und damit Schatzkammer der globalen Lebensmittelindustrie. Jedes Frühjahr und jeden Sommer machen sich deshalb große Schleppnetz-Trawler auf den Weg, sie heißen "Kodiak Enterprise" oder "American Triumph" und sorgen als schwimmende Fischfabriken dafür, dass kein Alaska-Seelachs Dutch Harbor jemals lebend zu Gesicht bekommt.

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Am Anfang der Geschichte über den Alaska-Seelachs steht allerdings eine Lüge. Der Alaska-Seelachs ist nämlich kein Lachs, sondern gehört zur Familie der Dorsche. Mitte der 80er-Jahre haben sich Werbemenschen diesen Namen für den Fisch ausgedacht, der den nahezu ausgerotteten Kabeljau ersetzten musste. Und die Taktik ist aufgegangen. Ein Viertel der 15,6 Kilogramm Fisch, die jeder Deutsche 2012 verspeist hat, war Alaska-Seelachs, der meiste davon tiefgekühlt. Zum Beispiel das Hamburger Unternehmen Iglo produziert jedes Jahr 55.000 Tonnen Fischstäbchen aus Alaska-Seelachs in seinem Werk in Bremerhaven. Aneinandergelegt könnte man diese Menge mehr als dreimal um den Erdball wickeln.

Es ist ein schöner Tag im April. Der Schnee blendet und Shirley Marquardt setzt ihre Sonnenbrille auf, so eine, wie sie die Piloten in den 90er-Jahren hatten. Nie würden Shirley auf die Idee kommen, "Alaska-Seelachs" zu sagen oder irgendeine englische Übersetzung für diesen Begriff. Wie alle in Dutch Harbor sagt sie "Pollock".

Shirley bringt ihren Jeep auf einem Hügel zum Stehen. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne wärmt die Luft auf etwas über null Grad, der Wind ist mild, die Boote schaukeln ausnahmsweise ganz sanft über das Wasser. "All das", sagt Shirley und zeigt auf das Tal zu ihren Füßen, "haben wir dem Pollock zu verdanken." Dort unten stehen kleine, in Pastellfarben getünchte Wohnhäuser, dazwischen saubere Straßen, sieben Kirchen, eine Schule, ein Spielplatz, die Bibliothek, das Krankenhaus. Dutch Harbor besteht zwar in erster Linie aus Hafen - aber ein Hafen, in dem es sich zu Leben lohnt. "Vor allem, wenn man bedenkt, wie abgeschieden es hier ist", sagt Shirley.

Sie ist Bürgermeisterin von Unalaska, der Aleuten-Insel, zu der Dutch Harbor gehört. Die 4600 Menschen hier haben dem Fischhunger im Rest der Welt ihren Lebensstandard zu verdanken. Während der Pollock bei uns zu Fischstäbchen, Schlemmerfilets und auch McFish verarbeitet wird, machen sie in China Surimi daraus. Surimi gibt es in Deutschland auch, vor allem in Sushi. "Krebsfleischimitat" steht als Beschreibung in den Speisekarten. Mit Krebsfleisch hat Surimi aber so viel zu tun wie Alaska-Seelachs mit Lachs: nichts.

Wenn die Zeit gekommen ist, reißt ein riesiges Maul den Pollock aus der friedlichen Tiefe der Beringsee. Dieses Maul ist 50 Meter hoch und 100 Meter breit, nach einem Kilometer oder mehr läuft es in so engen Maschen zusammen, dass kein Fisch mehr vor kann und keiner zurück. Per Computer können die Trawler die Pollock-Schwärme aufspüren und so zielgenau jagen - der Beifang liegt bei einem bis drei Prozent.

Drei Wochen und länger sind die Trawler auf dem Wasser. Das Abendblatt war nicht mit an Bord - aber die jungen Männer, die hier saisonweise zum Arbeiten herkommen und danach erschöpft in der Lobby des Hotels sitzen, können gut erzählen, wie es im Bauch dieser schwimmenden Fischfabriken aussieht. Stundenlang stehen sie nämlich dort unten, egal, wie oben das Wetter ist. Zusammen mit großen Edelstahl-Maschinen filletieren sie den Pollock, schneiden ihm die Flossen ab, bürsten die Eingeweide raus, der Pollock wird gehäutet und mit anderen Pollocks vor dem Tiefkühlen in einen Block gepresst: 48,2 Zentimeter lang, 25,4 Zentimeter breit, 6,27 Zentimeter hoch. Diese Maße sind überall auf der Welt gleich, die Maschinen im chinesischen Qingdao können ebenso damit arbeiten wie die von Iglo in Bremerhaven. 126 solcher Blöcke kommen auf eine Palette, die damit ziemlich genau eine Tonne wiegt. 3300 US-Dollar (2540 Euro) muss Iglo für eine Tonne gepressten, tiefgekühlten Pollock bezahlen. 46.872 Fischstäbchen werden aus so einer Tonne gemacht.

Man kann das alles so genau sagen, weil die Anatomie eines Fischstäbchens simpel ist: Es wiegt immer 30 Gramm, genau 10,5 Gramm sind Panade, 19,5 Gramm sind Pollock-Filet. Dieses Verhältnis ist kein Zufall: Das deutsche Lebensmittelbuch reglementiert genau, wie ein Fischstäbchen in der Bundesrepublik auszusehen hat.

Shirley Marquardt hat davon noch nie etwas gehört. Aber was das Fischstäbchen mit ihren persönlichen Lebensumständen zu tun hat, weiß sie ziemlich gut. Shirley lebt seit 30 Jahren in Dutch Harbor. "Damals sind die Fischer rausgefahren und haben ihren Fang direkt von den Ladeflächen ihrer Pick-ups verkauft", sagt sie. "Und von alldem", sie deutet wieder über den Ort, "gab es bis auf ein paar Schotterpisten nichts." Heute stehen die Docks, Hallen und Anleger der großen amerikanischen Fischproduzenten hier, sie heißen Trident Seafoods, Unisea oder American Seafoods. Und sie alle holen tonnenweise Pollock aus dem Wasser, außerdem tonnenweise Makrelen, Plattfische aller Art und was das Meer so hergibt. In keinem anderen Ort der USA wird mehr Fisch angelandet. Die Fabriken und die davon abhängigen Geschäfte, die Werkstätten, die Werften, die Schiffsausrüster und der einzige Supermarkt im Ort haben direkt oder indirekt mit der Fischerei zu tun. Sie alle zahlen hier ihre Steuern. Arbeitslose gibt es nicht. In Dutch Harbor werden Taxis ausschließlich von Frauen gefahren. Jeder, der genug Kraft hat, schnappt sich einen der lukrativeren Jobs in der Fischindustrie.

Viel Geld gab es hier schon früher zu verdienen. Davon kann Frank Kelty erzählen, der 1971 im Alter von 20 Jahren nach Dutch Harbor kam. Als Student hatte er ein Auto zu Schrott gefahren. Wie bekommt man da auf die Schnelle 7000 Dollar zusammen? Frank heuerte bei einer jener Boots-Crews an, die die wertvolle rote Königskrabbe unter Einsatz ihres Lebens aus der Beringsee fischen. "Und dann verliebte ich mich in die Gegend hier." Frank schmiss sein Studium und blieb. Heute ist er sozusagen der Fischereibeauftragte der Insel und weiß genau, welches der 300 Schiffe wann wie viel von welchem Fisch aus dem Wasser ziehen darf: Auf 1,247 Millionen Tonnen Pollock ist der Fang für 2013 begrenzt. Die Quote soll sicherstellen, dass nicht mehr Pollocks gefischt werden als neu entstehen. Frank sagt, die Quote funktioniert gut. Im letzten Jahr wurde der Sportplatz auf der Insel nach Frank benannt.

Der in Blöcke geschnittene und tiefgefrorene Pollock hat von Dutch Harbor aus einen weiten Weg vor sich. Aus dem Kühlraum des Trawlers wird er in den Kühlraum eines Containerschiffs gebracht. Darin fährt er mehr als 19.000 Kilometer nach Bremerhaven, zu Iglo. USA, Panamakanal, Atlantik, Ärmelkanal. Wenn es gut läuft und das Wetter mitspielt, ist die Fahrt in einem Monat geschafft.

Wer selbst von Dutch Harbor wegkommen will, muss mit feuchten Händen und weichen Knien in einen kleinen Propellerflieger der Linie Penair steigen, eine Saab SF 340, die eine Länge von 19,73 und eine Spannweite von 21,44 Metern hat. Innen drin stinkt es nach Schnaps. "Wer von euch ist nüchtern?", fragt Michelle. Die 30 Plätze in der Kabine sind alle besetzt, über den Köpfen der vor allem männlichen Passagiere hängt eine Dunstglocke aus Alkohol. Zwei Passagiere heben die Hand. "Okay, dann müsst ihr euch auf die Plätze an den Notausgängen setzen." Sicherheitsgurte klicken, Rucksäcke und dicke Allwetterjacken werden raschelnd aus den schmalen Gepäckfächern gezogen.

Wenn die kleine Saab abstürzt, ist es der Job der Passagiere an den Notausgängen, die Türen aufzustemmen "und es ist laut Gesetz verboten, auf diesen Plätzen betrunken zu sein", warnt Michelle. Die Prozedur ist deshalb bei jedem Start die gleiche. Dutch Harbor ist ein raues Pflaster - und wer es nach langer Arbeit in einem Schiffsbauch verlässt, ist erschöpft bis auf die Knochen. Aber er hat Dollar in den Taschen und Promille im Blut.

Manchmal kommt auch Sehnsucht dazu. Nach der Ehefrau, der Mutter, der Familie, den Freunden, die zu Hause geblieben sind und warten, sei es auf den Philippinen, kleinen Inseln im Pazifik, Südamerika oder irgendwo in den USA. Dutch Harbor ist ein Schmelztiegel der Nationen. Hier kommen Arbeiter her, die viel Kraft haben und wenig Geld. Ihren Lohn bekommen sie nach einer Saison bar auf die Hand - so können die zwei Kneipen auf der Insel gut über die Runden kommen.

In der kleinen SF 340 schmeißt der Pilot die Propeller an, aus deren sanftem Tuckern ein überlautes Dröhnen wird. Der Anlauf des Flugzeugs auf der kurzen Startbahn ist schnell und abrupt - und er endet nur wenige Augenblicke, bevor sich die Piste am steilen Übergang vom Land aufs Wasser in Nichts auflöst. Die kargen Felsen und schneebedeckten Berge der Aleuten werden immer kleiner, je höher die Maschine steigt. Das menschenleere weiß-blaue Niemandsland sieht jetzt ganz still und friedlich aus.

Bremerhaven, im Mai. Es ist einer der wenigen Tage, in denen die Sonne scheint und es fast 20 Grad in Norddeutschland sind. Die Fahrer, die mit ihren Gabelstaplern zwischen Container und Kühlraum auf dem Iglo-Gelände am Fischereihafen hin- und hersausen, sind trotzdem in dicke Daunenjacken gepackt. Minus 26 Grad sind es im großen Lager, in dem sich die großen Paletten mit gefrorenem Pollock türmen. 60.000 Tonnen Fisch laufen hier jedes Jahr durch, etwa 70 Prozent davon sind Pollock - oder besser gesagt das, was von ihm übrig ist. Die Filetausbeute beträgt 25 Prozent. Das heißt: Ein Viertel des Fisches wird am Ende tatsächlich zu Fischstäbchen verarbeitet. Der Rest endet wieder im Meer. Oder als Fischmehl.

"Das ist eigentlich gar nicht so wenig", sagt Florian Baumann. Er ist Leiter der Qualitätskontrolle bei Iglo und muss keine Daunenjacke tragen, sondern einen weißen Kittel, wie in einem Labor. "Bei anderen Fischen bleibt am Ende weniger übrig."

Iglo hat in Dutch Harbor keine eigenen Schiffe. Europas größter Tiefkühlkonzern kauft seinen Pollock von Trident Seafoods und den anderen dort, gut die Hälfte der jährlichen Menge. Die andere Hälfte bezieht Iglo von russischen Fischern aus russischen Gewässern, die ihren Fang in China verarbeiten lassen. Die Pollock-Schwärme kennen keine Landesgrenzen - und der Fisch darf auch Alaska-Seelachs heißen, wenn er nicht aus Alaska kommt.

Die Luft in der großen Fischstäbchenproduktionshalle in Bremerhaven ist feucht. Die auf dem Trawler vorgefertigten Blöcke werden von Arbeitern in Gummihandschuhen ausgepackt und von Maschinen so oft zerschnitten, dass sie für Fischstäbchen die richtige Größe und das richtige Gewicht haben. 19,5 Gramm Filet, 10,5 Gramm Panade, kurz anbraten, tiefkühlen, ab in die Verpackung, fertig. Vorne drauf lächelt Käpt'n Iglo. 15 Fischstäbchen kosten im Supermarkt bis zu 2,89 Euro. Für Iglo ist das ein schönes Geschäft. Aber auch für die Fischer, die Arbeiter, die Industrie in Dutch Harbor - alle bekommen ihr Stück vom Pollock-Kuchen ab.

Und was ist mit dem Fisch? Vor dem Büro von Florian Baumann, auf dem Flur der Iglo-Qualitätskontrolle, haben sie einen Pollock aus Plastik in einem Glaskasten aufgestellt. Er ist schlank, sein Bauch weiß und der Rücken dunkelgrün. Wäre der Fischhunger nicht, könnte ein echter Pollock bis zu einem Meter lang werden und sechs Kilo schwer. Doch meistens kann er das nicht. Und so ist es am Ende der Geschichte über den Alaska-Seelachs der Alaska-Seelachs selbst, der der einzige Verlierer ist.