Abendblatt-Serie: Wo kommen eigentlich unsere Lebensmittel im Supermarkt her? Zweite Reise führt zu Familie Strampe nach Gienau in Niedersachsen.

Gienau. Der Lastwagen fährt vom Hof und Sabrina Strampe laufen die Tränen über die Wangen. Aus Schmerz über den Abschied, aus Schmerz über den Schmerz ihres Mannes, der mit Kreide einen letzten Gruß für die Kühe an die Stalltür geschrieben hat. Er lässt in ihr alle Dämme brechen, obwohl es nur ein paar Worte sind: "Gute Reise, viel Glück, beste Gesundheit und ein langes Leben." Das ist es also, was ein Landwirt seinem Milchvieh wünscht, wenn er es loswerden muss, aber gar nicht will. Das ist es, was passiert, wenn die Globalisierung in ein Dorf wie Gienau einschlägt, 130 Einwohner, mitten im niedersächsischen Nirgendwo.

Eckardt Strampe ist groß wie ein Baum, hat freundliche Augen und Hände, die auch da anpacken, wo es schmutzig ist. Sechs Jahre ist es jetzt her "seit die Kühe weggegangen sind", wie er es nennt. Eckardt und Sabrina Strampe sitzen am Esstisch in ihrem Bauernhaus, Eichenholz, darüber eine weiße Tischdecke mit blauen Rändern, es gibt Kaffee und Plätzchen. "Die Tiere waren uns so ans Herz gewachsen", sagt sie.

Heute verdienen die Strampes ihr Geld mit Kartoffeln. Gut 600 Tonnen verkaufen sie im Jahr, vor allem in die Region, nach Lüneburg und ins rund 80 Kilometer entfernte Hamburg. Außerdem bauen sie Zwiebeln an, Roggen und Weizen, beides endet nach einer feuchten Saison als Tierfutter und bei gutem Wetter und guter Qualität als Mehl für Brot. Und Strampes produzieren noch Mais. Er wird in einer Biogasanlage zu Energie umgewandelt. Das machen viele Bauern so. Deutschland will seine Atomkraftwerke abschalten und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) belohnt die, die dabei helfen. Vor allem in Niedersachsen und Bayern ist die Zahl der Flächen, auf denen Mais angebaut wird, deshalb in die Höhe geschnellt.

Zum Blog: Hier können Sie die Arbeit der Reporter live verfolgen

Auf dem Hof von Familie Strampe hat das aber auch etwas mit den Kartoffeln zu tun. Auf einem Acker kann man sie nur alle vier Jahre anbauen, damit der Boden die richtigen Nährstoffe behält. Auf ihren 70 Hektar pflanzen Strampes deshalb nach einer Kartoffelsaison Weizen oder Roggen an, dann den Mais, dann wieder Getreide - und erst danach können sie erneut Kartoffeln in die Erde setzen. Kartoffeln direkt nach dem Mais zu pflanzen, verringert den Humusgehalt im Boden und verschlechtert die Qualität der Kartoffel, sagt Eckardt Strampe. Er weiß viel über die Beschaffenheit des Bodens, über Nitrate und Phosphate, darüber, was Pflanzen zum Leben brauchen. Wer ihm zuhört, bekommt eine Ahnung davon, dass der Volksmund lügen muss. Nicht der dümmste Bauer hat die dicksten Kartoffeln, sondern der, der sich mit Biologie, Chemie und Physik auskennt.

Doch bevor das alles war, die Kartoffeln, die Zwiebeln und der Mais, da waren noch die Kühe. 50 Stück, Schwarzbunte, jede hatte einen Namen.

Der Hof der Strampes liegt idyllisch zwischen Feldern und Wiesen, und in Sichtweite ist ein kleiner Wald. Eckardt Strampe ist schon sein ganzes Leben hier, so wie sein Vater und Großvater, der einst jene roten Ziegel aus dem Lehmboden gebrannt hat, aus dem die allermeisten Häuser in Gienau sind. Es gibt eine Feuerwehr im Dorf und einen Motorradclub. Mit 48 Jahren, als die Kühe weg waren und er endlich die Zeit dafür hatte, hat auch Eckardt Strampe seinen Motorradführerschein gemacht und sich eine eigene Maschine gekauft. In Kennerkreisen trägt das Modell einen sonderbaren Spitznamen: Gummikuh. Jedes Jahr im Juni, wenn die Frühkartoffelernte vorbei ist, fährt Eckardt Strampe mit seinen Kollegen aus dem Club eine Woche lang mit der Gummikuh durch Deutschland.

Für die echten Kühe wurde es eng, als der Milchpreis immer weiter in den Keller fiel. 40 Cent braucht ein Landwirt pro Liter, damit er seine Kosten decken kann. So wie Zehntausende andere kleine Höfe entschieden Strampes sich zur Aufgabe der Milchwirtschaft, als sie statt 27 auf einmal nur noch 18 Cent bekamen. Das alles hängt mit der EU-Landwirtschaftspolitik zusammen, die seit Mitte der 80er-Jahre die Milcherzeugung reguliert. Der Preis regelt sich seither nicht mehr nur über das marktwirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage. Viele Landwirte werfen zudem den wenigen Molkereien vor, die Preise unnötig zu drücken. Und dann ist da noch der Weltmarkt. In Zeiten der Globalisierung, in der alles mit allem zusammenhängt und die Einwohner aufstrebender Schwellenländer Milchdurst bekommen, den sie selbst nicht stillen können, beeinflussen Veränderungen beim Dollar-Kurs oder Extremwetterlagen auf der anderen Seite des Globus auch die Höhe der Summe, die ein Landwirt in der deutschen Pampa für einen Liter Milch bekommt.

Mit den Kartoffeln ist es einfacher, vor allem, weil Strampes nicht den Weltmarkt beliefern, sondern nur Supermärkte in der Region. Was sie genau für einen 2,5-Kilo-Sack von den Lebensmittelhändlern bekommt, mag Sabrina Strampe nicht sagen - es geht der Familie aber wirtschaftlich besser als mit der Milch. Acht Sorten Kartoffeln werden auf ihren Äckern angebaut, sie haben klingende Namen wie Annabelle, Leyla, Lilly, Laura oder Miranda. Die liebste Kartoffel der Deutschen heißt jedoch Linda. Ausgerechnet Linda müsste man eigentlich sagen, denn sie macht am meisten Arbeit. "Linda ist empfindlich", sagt Sabrina Strampe, "wir müssen sie behandeln wie ein rohes Ei." Wenn nicht, bekommt sie hässliche Risse. "Und das wollen die Kunden nicht." Das Auge isst eben nicht nur mit, es fällt auch die Kaufentscheidung. Linda wird deshalb anders als die anderen Kartoffeln per Hand sortiert. Das kostet Zeit und Arbeitskraft.

Die Strampes machen fast alles selbst. Sie haben einen erwachsenen Sohn, der mitarbeitet, und zwei Frauen aus dem Dorf. Das funktioniert auch, weil der Kartoffelanbau mit schwerem Gerät betrieben wird - und weil alles perfekt durchgetaktet ist. In einer großen Halle ist das Arbeitsgerät aufgebaut, ein Laufbandsystem, bei dem die Kartoffeln hinten in den Sturzbunker gekippt werden und sortiert und gebürstet wieder herauskommen. Drei Minuten ist eine Kartoffel unterwegs.

Sabrina Strampe ist eine kleine Frau mit kurzen Haaren und dunklen Augen. 1979 ist sie aus Hamburg hierhergezogen, der Liebe wegen. Sie kann viel erzählen über Kartoffeln und das Geschäft, davon, dass sie Hamburg vermisst, aber irgendwie auch nicht, weil Gienau jetzt ihre Heimat ist. Und sie kann von den Kühen erzählen, die an einen Milchbauern in Geesthacht gegangen sind. Sie hat sie besucht und gesehen, dass alles gut war und die Tiere sogar eine große Weide am Stall hatten. "Die brauchen doch die Sonne auf dem Fell und den Wind um die Ohren."

Der frühere Kuhstall ist heute das Kühlhaus für die Kartoffeln. In großen Holzkisten stehen sie hier aufeinandergestapelt, immer bei exakt vier Grad. Gerade in den Sommermonaten ist das ein Kostenfaktor, allerdings wollen Strampes auf jene Mittel verzichten, die verhindern, dass die Kartoffel beim Lagern keimt. "Eine Kartoffel, die nicht mehr keimen kann, ist für mich tot", sagt Sabrina Strampe. Deshalb muss es kalt sein. Dann "lebt" die Kartoffel weiter, dafür aber ohne Keime. Keimende Kartoffeln bleiben im Supermarkt ebenso liegen wie Kartoffeln mit Dellen. Wenn man Eckardt und Sabrina Strampe zuhört, stellt man sich vor, dass die Kartoffeln jetzt die gleiche Aufmerksamkeit und Hingabe bekommen wie damals die Kühe. Das scheint zu funktionieren. Anfangs haben sie ihr Gemüse mit dem Auto ausgeliefert, jetzt haben sie einen Lkw mit Fahrer.

Vier Kühe haben die Strampes aber behalten. Lilly und Alfi, die schon gestorben sind, Elsa und Felicia leben noch. Jede hat mehr als 100.000 Liter Milch gegeben, deshalb sollten sie in Gienau bleiben und dort ihr Gnadenbrot bekommen. 18 und 19 Jahre sind Elsa und Felicia jetzt alt, in industrieller Milchviehhaltung wird eine Kuh nach fünf Jahren geschlachtet. Im Winter leben die beiden in einer Scheune, im Sommer stehen sie auf der Weide. Um ihnen eine Freude zu machen, bringt ihnen Sabrina Strampe manchmal einen Eimer mit rohen Kartoffeln, die die Tiere tatsächlich mit beachtlicher Gier verschlingen. Lilly und Alfi wurden eingeschläfert, als sie zu schwach geworden waren. Sabrina Strampe hat den Tierarzt gebeten, den Kühen nicht auf dem Hof die Spritze zu geben, wo ihre massigen Körper nach dem Herzstillstand auf den kalten Beton gefallen wären. Nein, Lilly und Alfi sollten auf der Wiese unter den Apfelbäumen sterben. Weich fallen ins grüne Gras.