31 Milliarden Euro geben die Deutschen für Onlineshopping aus. Doch Jobs und Läden bleiben dabei auf der Strecke

Sophia G. hat das Einkaufsparadies direkt vor der Haustür. Nur ein Katzensprung ist es von ihrer Wohnung beim Rödingsmarkt in die Hamburger Innenstadt mit ihren Modeläden, Schuhgeschäften und großen Shoppingpassagen. Doch wenn die 21 Jahre alte Studentin der Energie- und Umwelttechnik Taschen oder Kleider kaufen will, dann klappt sie meist ihr Notebook auf und geht auf Suche im weltweiten Datennetz.

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In ihrer Wohnung finden sich extravagante High Heels mit grünen Absätzen, Mäntel mit Fischgrätenmuster und Taschen in Pink und Rot, Mitbringsel ihrer Streifzüge über Seiten wie Asos oder Stylebob, die die Kreationen britischer Modedesigner nach Deutschland bringen. "Auf diesen Portalen kriegt man Artikel, die in Hamburg einfach nicht zu haben sind", sagt sie.

Schon mal 300 Euro im Monat lässt sich Sophia G. ihre Leidenschaft für ausgefallene Mode kosten. "Um mir das leisten zu können, jobbe ich ziemlich viel." Oft bestellt sie bei den Onlinehändlern vier Paar Schuhe auf einmal, probiert die Modelle an und schickt dann drei wieder zurück. Ihre Freundinnen machen es genauso.

Vor ein paar Jahren wäre ein solches Verhalten noch exotisch gewesen. Der typische Onlinekäufer war männlich und technikverrückt. Von solchen Menschen gab es im Jahr 2005 etwa zehn Millionen. Entsprechend erledigten die Bundesbürger damals nur rund zwei Prozent ihrer Einkäufe im Datennetz. Heute hat fast jeder zweite Deutsche über 14 Jahren schon mal online eingekauft. Die Kosten für einen Internetzugang zählen zum Existenzminimum - festgeschrieben in den Hartz-IV-Regelsätzen. Somit steht das Netz jedem offen. "Das Internet ist das größte Einkaufszentrum der Welt", sagt Trendforscher Peter Wippermann.

Laut dem Institut für Handelsforschung wird der E-Commerce-Umsatz in Deutschland in diesem Jahr um gut zwölf Prozent auf 31 Milliarden Euro steigen. Gut sieben Prozent an den gesamten Erlösen im Einzelhandel macht das Onlineshopping damit aus. 370 Euro lässt jeder Deutsche jährlich im Netz - und gibt das Geld für Bekleidung, Musik und Computer, aber auch für Haushaltsgeräte und Möbel aus. Frauen kaufen mehr, Männer etwas häufiger.

Ein intensiver Onlineshopper ist auch Mark Behrend, der als IT-Experte für eine große Computerfirma in Hamburg arbeitet. "Alles, was ich trage, stammt aus dem Netz", sagt der 46 Jahre alte Familienvater. T-Shirts im Zehner-Pack hat er gerade geordert, Puma-Schuhe, seine Breitling-Uhr. Sogar Olivenöl im Fünf-Liter-Kanister.

Mit seinen Kollegen tauscht sich Behrend regelmäßig über Schnäppchen und exklusive Angebote aus. "Viele Händler geben einem schon einen Rabatt oder einen Gutschein, wenn man sich bei ihnen registriert und häufiger auf der Seite aufhält", erzählt er. In der Innenstadt müsse er hingegen die hohen Ladenmieten mitbezahlen. Hinzu kommt für Behrend die Zeitersparnis: "Als Vater beschäftige ich mich lieber mit meinen Kindern, als in Geschäften nach neuen Artikeln zu suchen."

Im Handel führt das Verhalten von Menschen wie Mark Behrend oder Sophia G. zu gravierenden Umwälzungen. Vordergründig profitiert Hamburg von dem gewaltigen E-Commerce-Boom. 5,46 Milliarden Euro setzt die Branche in der Hansestadt laut einer Studie des Magazins Internet Retailer um, die vom Netzwerk Hamburg@work ausgewertet wurde. Damit liegt die Metropole mit weitem Abstand vor anderen deutschen Städten wie Nürnberg, Frankfurt oder Berlin und europaweit auf Rang 4 hinter Luxemburg - dem Sitz von Amazon -, London und Paris.

Die gute Position Hamburgs hat vor allem mit dem Versandhandelsriesen Otto zu tun, der sein Geschäft seit Jahren auf das Internet ausrichtet und deutschlandweit schon gut drei Milliarden Euro und damit mehr als die Hälfte des Handelsumsatzes online erwirtschaftet. Gerade erst hat sich der jüngste Spross der Dynastie, Benjamin Otto, dazu entschlossen im Konzern ein wichtiges E-Commerce-Projekt zu übernehmen. Darüber hinaus sind mehr als 1000 reine Onlinehändler in der Stadt angesiedelt, vom Streetwear-Anbieter Frontlineshop bis zum Bücher-Spezialisten Libri.de.

Wer noch keinen Internetshop hat, bemüht sich, dies nachzuholen. Im Schanzenviertel haben sich kleine Modeläden wie Anna Golightly oder Glüxpfennig zusammengeschlossen und bieten ihre Kleider, Stofftiere, Lampen oder Wendekopftücher nun über die Plattform Schanzenport an.

Selbst konservative Familienunternehmen wie Peek & Cloppenburg können sich dem Trend nicht mehr entziehen. Unter Vangraaf.de hat das auf gediegene Kleidung spezialisierte Hamburger Unternehmen in dieser Woche seinen ersten Onlineshop gestartet. "Die Kunden erwarten, dass sie bei uns sowohl im Geschäft als auch im Netz einkaufen können", sagt der Leiter der neu gegründeten E-Commerce-Abteilung, Michael Vogel.

Doch den richtigen Zeitpunkt, ins Onlinegeschäft einzusteigen, hat Peek & Cloppenburg eigentlich schon längst verpasst, denn der Wettbewerb ist härter denn je. "Im Netz herrscht Krieg", sagt der Chef des Hamburger Outdoorhändlers Globetrotter, Andreas Bartmann. Die Barmbeker haben gerade erst mehrere Millionen Euro in ein neues Logistikzentrum investiert, um ihre Regenjacken, Rucksäcke und Wanderstiefel schon einen Tag nach der Bestellung zum Kunden schicken zu können. "Das ist Standard", sagt Bartmann, der 40 Prozent seines Umsatzes von 250 Millionen Euro online erwirtschaftet.

Steigerungen wie in den Vorjahren erwartet der Globetrotter-Chef aber nicht mehr. Zu stark ist die Konkurrenz von Wettbewerbern wie dem Berliner Unternehmen Zalando, das mit aggressiver Werbung ("Schrei vor Glück") und portofreiem Versand die Branche aufmischt. "Wenn wir auf das Porto verzichten würden, wäre unsere Marge dahin", sagt Bartmann.

Als sich Hamburgs Einzelhändler Ende August in der Handelskammer zu einem Kongress trafen, war überall das "böse Z-Wort" zu hören. Zalando steht mittlerweile für vieles, was faul ist an der Onlinebranche. Auf 500 Millionen Euro haben die Berliner ihren Umsatz 2011 verdreifacht, nur Gewinn machen sie nicht. Es geht um Verdrängung und um höhere Marktanteile.

Hinter Zalando stehen Finanziers wie Oliver Samwer und seine Brüder Marc und Alexander. Die Geschwister zählen zu den bedeutendsten Gründern von Onlinefirmen weltweit. "Ich bin der aggressivste Mensch im Internet auf diesem Planeten", hat Oliver Samwer mal von sich gesagt. "Ich würde sterben, um zu gewinnen." Was die Samwers mit Schuhen gemacht haben, versuchen sie nun mit Möbeln und dem Portal Home 24. In dem Büro des Berliner Start-ups soll ein nicht ganz ernst gemeintes Plakat mit der Aufschrift "Kill Billy" hängen - eine Breitseite gegen Ikea und sein berühmtes Regal. Auf der Strecke bleiben in diesem Kampf immer mehr traditionelle Händler. Ludwig Görtz, einst als Hamburger Schuhkönig tituliert, ist im vergangenen Jahr in die roten Zahlen gerutscht. Der Abbau von 60 Arbeitsplätzen in der Verwaltung und die Schließung von bundesweit 30 Filialen soll das Unternehmen zurück in die Gewinnzone führen. Die Probleme haben mit einer zu starken Expansion, aber auch mit der aggressiven Internetkonkurrenz zu tun. Zwar ist auch Görtz online aktiv, doch die erzielten Erlöse reichen nicht, um Verluste in den Läden auszugleichen.

Ähnlich düster sieht es bei der Buchhandelskette Thalia aus, die mit voller Wucht den Trend zum E-Book und zu Bestellungen bei Amazon & Co. zu spüren bekommt. In Nordrhein-Westfalen werden jetzt die ersten Filialen dichtgemacht, im Norden versucht die Kette, sich von einzelnen Etagen der Läden im Alstertal-Einkaufszentrum und in der Europa-Passage zu trennen.

Das Dilemma ist, dass die Arbeitsplätze, die bei Görtz oder Thalia wegfallen, in der Internetwelt nicht wieder in gleicher Quantität und Qualität neu entstehen. Zalando etwa muss sich gegen Berichte über miese Arbeitsbedingungen bei einem Logistikdienstleister wehren. Über einen Stundenlohn von sieben Euro, kaum Sitzmöglichkeiten bei der Arbeit, eine permanente Überwachung und fehlende Toiletten berichtete das "ZDF". Nach einem Besuch des Amts für Arbeitsschutz versprach der Onlinehändler Abhilfe: mehr provisorische Toiletten und gelenkschonende Bodenmatten in der Halle.

Auch im vergleichsweise sozialen Otto-Konzern hinterlässt der harte Konkurrenzkampf Spuren. Mit einem "Fokus" getauften Restrukturierungsprogramm richtet die Gruppe ihre Versender Otto, Baur und Schwab neu aus. Kostensenkung und mehr Tempo sind das Ziel, Personalabbau ist wahrscheinlich. Bei der Logistiktochter Hermes hat sich Otto schon längst an die harschen Gepflogenheiten in der Branche angepasst. Selbstständige Paketboten und Subunternehmer sind es, die mit ihren eigenen Fahrzeugen die Lieferungen, die die Kunden online ordern, in die Haushalte bringen. Auch hier gab es Kritik an Niedriglöhnen, die Otto zur Einrichtung eines Ombudsmanns für bedrängte Boten veranlasste.

"Letztlich kostet Onlineshopping Jobs, weil die Preisvorteile im Netz ja irgendwo herkommen müssen", bilanziert Trendforscher Wippermann. Er geht davon aus, dass die Rationalisierung in den großen Warenverteilzentren in den nächsten Jahren weiter voranschreiten wird. "Auf lange Sicht werden Roboter diese Arbeit erledigen."

Für die Innenstädte besteht die Gefahr, dass sich dort nur noch große "Flagshipstores" ansiedeln - aufwendige Ausstellungsflächen, um Marken in Szene zu setzen, die aber nicht unbedingt Gewinne erwirtschaften müssen. Verbucht werden die hohen Mieten von 300 Euro pro Quadratmeter dann als Werbeausgaben. Das eigentliche Geschäft findet anderswo statt. Und die Kunden? Was wird aus uns, wenn wir alle nur noch allein auf der Couch einkaufen? Wenn der Vater am PC eine Uhr, die Mutter neue Schuhe und der Sohn mit dem Smartphone ein paar neue Songs ordert? Alle in einem Raum und doch getrennt voneinander in unterschiedlichen Welten. Trendforscher Wippermann mag in das Lamento von der großen Vereinsamung nicht einstimmen, er sieht eher mehr als weniger Kommunikation im Netz. Die Kunden tauschten sich mittels Bewertungen auf den Seiten der Onlinehändler und über die Sozialen Netzwerke heute viel intensiver über Waren aus als früher, sagt er.

Auch Sophia G. hat nicht den Eindruck, dass sie sich durch ihre Onlinekäufe von der Welt absondert. Regelmäßig schickt sie ihren Freundinnen Fotos von neuen Taschen oder Schuhen, bevor sie diese bestellt. "Passt das zu mir, oder leide ich gerade unter Geschmacksverirrung?", postet sie dann. Und ab und an geht die Studentin doch zum Shoppen in die City. "In einem Geschäft einzukaufen und die Sachen anzuprobieren, macht doch mehr Spaß, als nur vor dem Computer zu sitzen."