Mehr als eine Milliarde Menschen sind unterernährt. Schuld ist auch die Finanzkrise. Ein wütender Essay von Soziologieprofessor Jean Ziegler.

Bleischwer liegen die Monsun-Wolken über Bangladeschs Millionenstadt Chittagong. In der Ferne glitzert der Golf von Bengalen. Auf einem Hügel am Ostrand der Stadt steht eine Schule. Sie ist von einer Betonmauer umgeben. Ein Eisentor verwehrt den Zugang. Jeden Tag um 14 Uhr kommen drei weiße Lastwagen des Uno-Welternährungsprogramms - dem World Food Programm (WFP). Sie bringen Reis, Mehl und Gemüse. Zwei Dutzend Mütter machen Feuer unter riesigen Kesseln. Sie kochen aus der Lieferung jeden Tag Brei und die Gemüsesuppe. Nur eine Stunde später stehen die Schulkinder in langen Schlangen vor den Holztischen und strecken den Köchinnen ihre Blechteller entgegen. Für die meisten der Kinder ist dies die einzige anständige Mahlzeit am Tag. Das Schultor bleibt während der Speisung geschlossen. Die Kinder sollen die Suppe gleich auf dem Gelände essen. Denn immer wieder versuchen einige von ihnen, mit ihrem vollen Teller in die nahe gelegene Slumsiedlung zu entkommen, um den Brei mit ihren Geschwistern und ihren Eltern zu teilen. Das war im Jahr 2007.

Schülerspeisung gestrichen

Mittlerweile gibt es dieses Ritual nicht mehr. Das Welternährungsprogramm hat die Schülerspeisung für eine Million unterernährter bengalischer Kinder ersatzlos gestrichen. Schuld an dieser Sparmaßnahme ist die Finanzkrise. Während die EU-Finanzminister im Oktober 2008 ohne langes Zögern die gigantische Summe von insgesamt 2,5 Billionen Euro - also 2 500 000 000 000 Euro - bereitstellte, um angeschlagene Banken vor dem Ruin zu bewahren, wurde am anderen Ende der Welt - wo es um überlebenswichtige Hilfen für Menschen geht - radikal der Rotstift angesetzt. Der Etat des Welternährungsprogramm, das zuvor über ein Budget von sechs Milliarden Dollar (4,1 Milliarden Euro) verfügte, wurde 2008 um etwa 40 Prozent gekürzt. Das Geld muss reichen, um gut 71 Millionen Menschen mit dem Nötigsten zu helfen. Die Ernährungssoforthilfe greift überall dort, wo eine Volkswirtschaft plötzlich zusammenbricht - wegen Krieg, Klimakatastrophe oder auch wegen einer Heuschreckeninvasion. Dort, wo niemand mehr säen noch ernten kann. Mit seinen Hilfen erhält das WFP Menschen am Leben.

Heute, Weihnachten 2009. Das Welternährungsprogramm verteilt unter anderem in Kenia Hilfen, wo sich in elenden Flüchtlingslagern über eine halbe Million halb verhungerter Somalier unter Plastikunterständen drängen. Jeder Erwachsene erhält eine Tagesration von 1500 Kalorien. Nicht mehr. Und dies, obwohl die Uno-Weltgesundheitsorganisation bei 2200 Kalorien Nahrung pro Tag das absolute Existenzminimum sieht. Über den kenianischen Lagern weht die blauweiße Flagge - sichtbares Zeichen für die eigentliche Pflicht der Uno, Menschen am Leben zu erhalten. Doch genau dort organisiert die Uno heute die Unterernährung, die für die Schwächsten der Armen zu Agonie und schließlich zum Tod führt.

In seinem Hauptquartier, im künstlich gekühlten Büroturm in Kairo, ist Dali Belgasmi der Verzweiflung nahe. Belgasmi ist WFP-Regionaldirektor für den Mittleren Osten und Afrika. Er ist ein außerordentlich kompetenter, kluger und energischer Mann. Er stammt aus Tunesien, aus einem Beduinenstamm, der vor Jahrhunderten aus Jemen eingewandert ist. Er ist ein international anerkannter Ernährungsbiologe. Und vor allem: Er hat Mut. 2002 organisierte Belgasmi in Afghanistan die Lastwagenkolonnen für das Welternährungsprogramm, die trotz der amerikanischen Bombardements von Peshawar über den Kyberpass Nahrung in die zerstörten afghanischen Städte und Dörfer brachte. Heute steht er vor Problemen, die fast übermenschlich sind: In Darfur, im Westsudan, leben 2,2 Millionen Menschen in 17 Lagern (sogenannte "Internaly displaced persons"). Es sind Frauen und Kinder. Männer aus den schwarzafrikanischen Völkern der Zaghawa, Massalit und Fur. Seit vier Jahren führt der islamische Diktator Omar al-Bashir aus Khartum einen Vernichtungskrieg in den drei Westprovinzen des Sudans, dem Darfur. Omar al-Bashir wird vom internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit internationalem Haftbefehl wegen des Vorwurfs von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht. Die 2,2 Millionen Flüchtlinge, deren Dörfer abgebrannt, deren Brunnen vergiftet, deren Äcker zerstört und deren Vieh vernichtet worden sind, überleben nur Dank der Uno-Hilfen. Doch diese Mittel des Welternährungsprogramms reichen nicht aus.

Krise ist für Tausende tödlich

Wer für eine Weltordnung der Vernunft und der sozialen Gerechtigkeit eintritt, müsste eigentlich über die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise glücklich sein: Sie hat die Weltdiktatur des spekulativen Finanzkapitals endgültig entlarvt. Die Börsenhalunken haben ihre Legitimationstheorie, die sich ganz dem Neoliberalismus verschrieben hatte, verloren. Jahrzehntelang hatte die neoliberale Wahnidee die Marktwirtschaft fast wie ein Naturgesetz bestimmt. Die unsichtbare Hand des Marktes erschien als unabänderliches Prinzip - und nicht als ein von Menschen gestaltetes System. Diese Wahnidee hat sich nun selbst entzaubert: Bodenlose Gewinnsucht, Arroganz und Gier als einzige Triebkraft der kannibalischen Weltordnung sind heute für jedermann deutlich sichtbar.

Darf man sich also freuen - und auf Änderungen hoffen? Nein. Die Verwüstungen, die der entfesselte Finanzkapitalismus noch während seines Niedergangs anrichtet, können niemanden freuen. Hinter der Massenarbeitslosigkeit in den USA und in Europa verbergen sich Millionen persönlicher Tragödien. Aber für Hunderttausende von Familien in der Dritten Welt ist die Krise tödlich. Die Zahl der weltweit 2,3 Milliarden extrem armer Menschen, die mit einem Tageseinkommen von weniger als 1,25 Dollar auskommen müssen, hat sich seit diesem Jahr weiter um mehr als 100 Millionen weiter erhöht, berichtet die Weltbank.

Welternte könnte alle ernähren

Das Dilemma existiert bereits seit Hunderten von Jahren. Bereits im 19. Jahrhundert schrieb der französische Schriftsteller Alphonse Allais: "Wenn die Reichen abmagern, sterben die Armen." Allais hat Recht: Die Krise tötet Menschen. Die Banker haben mehr Menschen auf dem Gewissen als mancher afrikanische Kriegsherr. Und trotzdem dringt niemand darauf, einen Internationalen Gerichtshof für Wirtschaftsverbrechen einzurichten. So gehört es weiter zum Alltag, dass im Sudan, in Somalia und Bangladesch Menschen verhungern, während die defizitäre Schweizerische Großbank UBS ihren Börsenbanditen schon wieder Boni in Höhe von 1,7 Milliarden Dollar für 2009 auszahlt.

Seit April sind erstmals in der Welt mehr als eine Milliarde Frauen, Kinder und Männer permanent schwerstens unterernährt, berichtet die Welternährungsorganisation FAO in ihrem World Food Report. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 47 000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger oder seinen Folgen. In demselben Bericht hebt die FAO aber auch hervor, dass die weltweite Landwirtschaft heute problemlos ausreichend Nahrung, sprich 2700 Kalorien pro Erwachsener und Tag, für zwölf Milliarden Menschen produzieren könnte - also die fast zweifache Weltbevölkerung.

Wer verhungert, wird ermordet

Die Schlussfolgerung ist klar: Hunger ist kein unveränderbares Schicksal. Massensterben durch Hunger ist kein Naturgesetz. Es gibt objektiv keinen Mangel, der das tägliche Massensterben legitimieren könnte. Alle Hunderte von Kindern, die während der schönen Stunden, in denen wir unterm Weihnachtsbaum sitzen, an Hunger sterben, werden ermordet. Einige Theologen stellen die mörderische Weltordnung an den Pranger. "Die besessene, schrankenlose Gier unserer Reichen, verbunden mit der Korruption der Eliten in den sogenannten sich entwickelnden Ländern, bildet ein gigantisches Mordkomplott (...) überall auf der Welt und Tag für Tag wiederholt sich der Kindermord von Bethlehem", schreibt der angesehene Theologe der Uni Zürich, Walter Hollenweg. Und Dorothee Sölle stellte einst fest: "Die Realität wahrnehmen heißt, die weitergehende Kreuzigung Jesu in unserer Welt sehen. Heute hören wir die Geschichte, die täglich vor sich geht. Die Aufrüstung und der Hunger sind die beiden Arme des Kreuzes, an dem die Armen hängen."

Wo ist Hoffnung? Im Individuum, dem moralischen Imperativ, der in jedem von uns schlummert. "Ich bin der andere, der andere ist ich". Immanuel Kant sagt: "Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir." Der Mensch ist das einzige Subjekt der Geschichte. Der Weltgeschichte genauso wie seiner eigenen. Alle Kraft, alle Hoffnung, alle Liebe und alle Unendlichkeit sind in jedem von uns. Der französische Schriftsteller Georges Bernanos schreibt: "Gott hat keine anderen Hände als die Unseren." Entweder wir ändern diese Welt - oder sonst tut es niemand.