Streit um den Mindestlohn: Viele Unternehmen wollen nur noch fünf Euro pro Stunde zahlen, der Arbeitsdruck auf die Beschäftigten nimmt zu.

Hamburg. Edy Dogic hat auch an diesem grauen Oktober-Tag viel zu tun, obwohl gestreikt wird. Er will die letzten Mitarbeiter informieren, dass streiken statt putzen angesagt ist. Die Tarifverhandlungen sind in der Sackgasse, heute gibt es ein neues Spitzengespräch. 8,7 Prozent mehr Lohn fordern die Gewerkschaften. Das entspricht einem Stundenlohn von 8,85 Euro. Die Arbeitgeber bieten ein Lohnplus von drei Prozent.

Die Schreibtische bei der Versicherung Hamburg-Mannheimer am Überseering bleiben an diesem Tag unabgestaubt, die Teeküchen werden nicht aufgeräumt. Am nächsten Tag wird es Nestlé in Hamburg treffen. "Wir verfolgen eine Politik der Nadelstiche", sagt der Hamburger Gewerkschafter André Grundmann von der Gewerkschaft IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU). Die Arbeitgeber soll es treffen, wenn die Regressforderungen der ungeputzten Firmen eintreffen.

Edy Dogic streift sich eine Streikweste über und sammelt seine Leute. Der 31-Jährige ist Vorarbeiter bei der Reinigungsfirma Bogdol. Repressalien, weil er streikt, fürchtet er nicht. "Streiken ist mein gutes Recht", sagt er. Sein befristeter Vertrag läuft ohnehin nur bis Ende des Jahres. Nicht ungewöhnlich in der Branche, in der es viele Zeitverträge, Minijober, Hartz-IV-Aufstocker und Teilzeitangestellte gibt. 860.000 Beschäftigte arbeiten in der Branche, in Hamburg sind es 35.000.

Wegen des Streiks drohen nicht nur schmutzige Flure und Toiletten in vielen Betrieben. Ohne Tarifvertrag, der zum 30. September ausgelaufen ist, drohen den Beschäftigten neue Dumpinglöhne. Denn die unterste Lohngruppe im Tarifvertrag - 8,15 Euro pro Stunde - war vom Bundesarbeitsminister als allgemein verbindlich erklärt worden und galt damit als eine Art Mindestlohn. "Nur durch die Kündigung des Tarifvertrages durch die IG BAU und den damit verbundenen tariflosen Zustand sind Dumpinglöhne seit dem 1. Oktober möglich geworden", sagt Volker Okun, Geschäftsführer der Landesinnung der Gebäudereiniger Hamburg. "Im Prinzip können die Arbeitgeber jetzt bis zu 30 Prozent unter dem Tariflohn bezahlen, bevor es sittenwidrig ist", sagt Grundmann. "Es ist zwangsläufig, dass die Allgemeinverbindlichkeitserklärung immer nur so lange gilt, wie der Tarifvertrag läuft", sagt eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums. Das sei sicherlich beiden Tarifparteien klar gewesen.

Mancher Arbeitgeber hat diese zeitliche Gesetzeslücke früh erkannt. Schon vor einem Jahr hat die Peter Schneider Gebäudedienstleistungen aus Hannover, die auch in Hamburg Firmen reinigt, ihren Beschäftigten einen Änderungsvertrag vorgelegt. "Sollte jedoch kein gesetzlicher Mindestlohn und kein für allgemein verbindlich erklärter Mindestlohntarifvertrag bestehen, so wird ein Lohn in Höhe von 6,50 Euro brutto für die alten Bundesländer und 5,00 Euro brutto für die neuen Bundesländer vereinbart", heißt es in dem Vertrag, der dem Abendblatt vorliegt. "Die meisten Mitarbeiter haben unterschrieben", bestätigt Mike Peter Schneider, Geschäftsführer Schneider Gebäudedienstleistungen. "Wir zahlen aber weiterhin 8,15 Euro pro Stunde in den alten Bundesländern." Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sei das lediglich eine Option. "Wenn ein Objekt ausläuft und ich von einem Konkurrenten unterboten werde, will ich handlungsfähig bleiben", begründet Schneider, der auch Landesinnungsmeister ist, seine Vorgehensweise.

Das Auslaufen des Mindestlohnes hat sich unter den Kunden schnell herumgesprochen. Sie hoffen auf günstigere Preise. Auch die Bundeswehr ist in Verdacht geraten, die Preise drücken zu wollen. In einem Schreiben des Bundeswehr-Dienstleistungszentrums Potsdam werden Firmen um Nachbesserungen bei der Abgabe von Angeboten gebeten. "In dem Schreiben hat ein wichtiger Satz gefehlt, der zu einer Fehlinterpretation führte", sagt ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums. Ziel sei es vielmehr gewesen, dass die Auftragnehmer einen möglichen neuen, höheren Mindestlohn in der Kalkulation gegenüber der Bundeswehr berücksichtigen können.

"Mit dem Mindestlohn haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht", sagt Okun. Er habe Sicherheit für die Mitarbeiter gebracht und unlauteren Wettbewerb unterbunden. "Deshalb raten wir den Firmen auch jetzt, den Mindestlohn weiterzuzahlen, denn wir rechnen mit einem Tarifabschluss."

Für den seit dem Jahr 2007 gültigen Mindestlohn haben die Arbeitnehmer einen hohen Preis gezahlt. "Wir konnten den Mindestlohn für die Beschäftigten leichter durchsetzen, falls sie ihn doch nicht erhielten", sagt Susanne Neumann, Vorsitzende der Bundesfachgruppe der Gebäudereiniger der IG BAU. "Aber der Zeitdruck hat zugenommen. Reinigten vorher sechs Frauen eine bestimmte Fläche sind es jetzt nur noch vier", sagt Neumann. "Im Schnitt muss ein Beschäftigter in einer Stunde 350 Quadratmeter reinigen."

Ein Grund, warum viele den Job nur in Teilzeit machen. "Acht Stunden halten das viele gar nicht durch. Viele Neueinsteiger geben nach kurzer Zeit wieder auf", sagt Neumann. Denn der Wettbewerb laufe nur über den Preis. Um den Druck zu erhöhen, setzen viele große Firmen zwei Reinigungsbetriebe in einem Objekt ein. "Jede Tariferhöhung führt zu kürzeren Zeitvorgaben", sagt Neumann.

Das spürt auch Edy Dogic bei seiner Arbeit. "Zwei Frauen müssen in vier Stunden 16 große Toilettenräume reinigen", sagt er. "Das schaffen sie oft nicht, dann helfe ich", sagt er. Trotz des Drucks möchte er seine Arbeit nicht missen. Dogic hat keine Ausbildung. Seit vier Jahren arbeitet er als Gebäudereiniger. Über die Zeit davor macht er nicht viele Worte. "Ich war jung", sagt er und lächelt verschmitzt. Rund 1000 Euro netto bringt ihm der Vollzeitjob monatlich. Das reicht nicht für ihn und seinen fünfjährigen Sohn. "Ich habe noch einen 400-Euro-Job als Pizzabäcker", sagt er. Ob er sein Einkommen mit staatlichen Leistungen aufstocken kann, will er gar nicht prüfen. "Mit dem Arbeitsamt möchte ich nichts zu tun haben", sagt er und hofft auf einen guten Tarifabschluss.

Folgt man den Tarifritualen, müsste ein Abschluss von rund vier Prozent möglich sein. Manche Arbeitgeber sollen auch bereit dazu sein, sagen Gewerkschafter. "Mit 24 Cent pro Stunde mehr werden wir uns nicht abfinden", sagt Neumann. "Die Forderungen der Gewerkschaft verkennen die Realität auf dem Markt der Gebäudereinigung", entgegnet Okun. "Wo nicht gearbeitet wird, kann auch nicht gereinigt werden", spielt er auf die Kurzarbeit in vielen Firmen an. Die Personalkosten machen bis zu 85 Prozent der Gesamtkosten aus. Doch auch im Krisenjahr 2008 hat die Branche bundesweit gut verdient. Die Umsätze stiegen um 4,8 Prozent, die Gewinne um 3,1 Prozent.