Hamburger Wirtschaftsforscher wollen Gegenfinanzierung für mögliche Steuersenkungen der Regierung.

Brüssel/Hamburg. Deutschland steht vor einem neuen Defizitverfahren. Damit will die EU-Kommission einen raschen Abbau der in der Krise angehäuften Milliardenschulden erzwingen. Nur eineinhalb Wochen nach den Bundestagswahlen brachten die EU-Währungshüter gestern in Brüssel Strafverfahren gegen Berlin und acht weitere Defizitsünder in der Gemeinschaft auf den Weg. Bundesweit seien sowohl das Defizit als auch der gesamtstaatliche Schuldenberg zu hoch, bilanziert die Kommission.

Gegen einen Sparkurs stehen jedoch die von der Union und der FDP in den Koalitionsverhandlungen diskutierten Steuersenkungen. Die Union will Entlastungen von 15 Milliarden Euro, die FDP von 35 Milliarden Euro. "Es ist die Sache der Regierungen, wie sie ihre Haushalte ausgleichen", sagte die Sprecherin von EU-Währungskommissar Joaquín Almunia dazu.

Auch Michael Bräuninger, der Konjunkturchef des Hamburger Wirtschaftsforschungsinstituts HWWI, sieht Steuersenkungen "problematisch, wenn sie nicht gegenfinanziert werden", wie er dem Abendblatt sagte. Möglich sei, geringere Einkommenssteuern durch eine höhere Mehrwertsteuer auszugleichen oder Gebühren für den Klimaschutz zu erhöhen. "Zu befürchten ist, dass die Zuschüsse für die Sozialversicherungen gekürzt werden und die Beiträge steigen", sagte Bräuninger. Dies sei schädlich, weil dadurch die Arbeitskosten wieder steigen würden. Schließlich seien die Sozialbeiträge zuletzt gesunken - "Das war eine erfolgreiche Politik."

Bei der Neuverschuldung dürfte Deutschland im laufenden Jahr 3,9 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreichen, erlaubt sind höchstens drei Prozent. Für das kommende Jahr werden 5,9 Prozent angenommen. Beim gesamtstaatlichen Schuldenstand nehmen die Währungshüter im laufenden Jahr 73,4 Prozent vom BIP an - erlaubt sind höchstens 60 Prozent. 2010 soll der Wert auf 78,7 Prozent steigen. Der HWWI-Experte geht dabei davon aus, dass Deutschland die Kriterien frühestens 2011 wieder erfüllen kann. "In dem Defizitverfahren muss nun eine Perspektive aufgezeigt werden, wie dieses Ziel erreicht werden soll."

Die Strafverfahren will die EU Mitte November eröffnen. Dann will die Kommission Fristen zur Defizitrückführung setzen. Im Dezember sollen die EU-Finanzminister zustimmen.

Strafprozeduren, bei denen in letzter Konsequenz hohe Geldbußen für Euro-Länder drohen, laufen in der EU gegen elf Staaten. Bußen wurden bisher aber nicht verhängt.

Die EU-Kommission rechtfertigte sich dafür, dass sie noch vor Ablauf der Wirtschaftskrise bei den Schulden hart durchgreift. Der Euro-Stabilitätspakt müsse rigoros angewandt werden, um glaubwürdig zu bleiben, sagte Almunia. Derzeit sei es aber für die Mitgliedsstaaten noch zu früh, um mit dem Sparen zu beginnen: "Bis sich die Konjunktur wieder erholt, müssen wir die Wirtschaft weiter unterstützen", sagte der Spanier. Brüssel erwartet noch einen Abbau von Millionen Jobs in Europa, der auch zu sozialen Spannungen führen könnte.