Wie eine Stadt gegen ihren wirtschaftlichen Niedergang ankämpft: Am alten Fischereihafen entstehen heute die leistungsstärksten und größten Windräder der Welt.

Bremerhaven. Wie in Zeitlupe rollt der blaue Tieflader aus der Montagehalle. Das Maschinenhaus der Windturbine obendrauf, 18 Meter lang und sechs Meter hoch, sieht aus wie ein Wohnwagen für Riesen, die Menschen daneben wirken wie Gartenzwerge zur Dekoration. "Das Stück wiegt 320 Tonnen", sagt Axel Homann von Repower Systems. "Dazu kommt die Nabe für die Rotorblätter mit 62 Tonnen und drei Blätter von je 18 Tonnen." Das alles muss später einmal von einer schwimmenden Plattform aus hinaufgehievt werden auf einen mehr als 100 Meter hohen Stahlturm und da oben auch halten. Bei jedem Wetter, auch bei schweren Stürmen, weit draußen auf der Nordsee.

Am alten Fischereihafen von Bremerhaven, da, wo einst die deutsche Fischereiflotte vor Anker lag, stehen heute nagelneue Industriehallen. Hier werden die weltweit größten und leistungsstärksten Windturbinen für den Einsatz in sogenannten Offshore-Windparks gebaut - beim Hamburger Unternehmen Repower Systems und nebenan beim Konkurrenten Multibrid, der zum französischen Atomtechnikkonzern Areva gehört.

Mit grüner Ökospinnerei, wie manche Kritiker der erneuerbaren Energien wähnen, hat das nichts zu tun. Ein Windkraftwerk wie die Repower 5M oder das noch stärkere Modell 6M, je sechs bis acht Millionen Euro teuer, können 5000 bis 6000 Haushalte mit Strom versorgen. Vier Wochen dauert es bei Repower, aus vorgefertigten Bauteilen in Bremerhaven ein Maschinenhaus der 5M zu montieren.

"Noch ganz am Anfang"

Der Fertigungstechnologe Homann findet das so spannend, dass er vor einem Jahr seinen Arbeitsplatz bei einem Weltkonzern aufgab und zum Mittelständler Repower wechselte: "Bei Airbus in Hamburg war ich mitverantwortlich für die Linienfertigung des Modells A320", erzählt er. "Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, aber die Flugzeugindustrie ist heutzutage weitgehend ausgereift. Diese Branche hier steht in der industriellen Entwicklung noch ganz am Anfang."

Der Tieflader mit dem riesigen Gehäuse der 5M schleicht schon bald wieder hinein in die Halle. Bis zur Verschiffung des Windkraftwerks in den Offshore-Windpark Alpha Ventus auf der Nordsee, 45 Kilometer nördlich der Insel Borkum, dauert es noch einige Zeit. An diesem Tag ist die Maschine für einen Fototermin auf den Hof gerollt worden. Der Bürgermeister ist gekommen, dazu Honoratioren und Wirtschaftsvertreter, um den Schwerlastterminal einzuweihen.

"Hier in Bremerhaven haben wir eine Kapazität zur Montage von bis zu 100 5M- oder 6M-Anlagen im Jahr", sagt Matthias Schubert, der für die Produktion verantwortliche Vorstand bei Repower Systems. "Wir halten es für realistisch, dass wir von 2012 an auch so viele Exemplare jährlich hier fertigen werden." Derzeit arbeiten rund 30 Mitarbeiter in der Montage. Bis zu 400 will Repower bei voller Auslastung hier und bei dem benachbarten Partnerunternehmen Powerblades beschäftigen, das Rotorblätter für Windkraftwerke herstellt.

"Das ist erst der Anfang"

Repower ist ein Pionierunternehmen bei der Konstruktion großer Windanlagen für den Einsatz auf See. Der frühere Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt hatte vor Jahren als Vorstandsvorsitzender den Bau der 5M vorangetrieben. Mittlerweile leitet Vahrenholt das Unternehmen Innogy, das Tochterunternehmen für erneuerbare Energien des Essener Versorgungskonzerns RWE. Im Februar unterzeichneten Repower und Innogy einen Rahmenvertrag über die Lieferung von bis zu 250 Anlagen der Typen 5M und 6M in den kommenden Jahren. Die Anlagen sollen in der deutschen Nordsee aufgestellt werden, aber auch andernorts in Europa. Der Zwei-Milliarden-Euro-Auftrag war der größte, der an die Offshore-Windkraftindustrie vergeben wurde.

Und das ist vermutlich erst der Anfang: "In Deutschland ist der Bau von bis zu 25 000 Megawatt Windkrafterzeugungskapazität auf See geplant", sagt Repower-Vorstand Schubert. "Vieles davon wird realisiert werden, denn die politischen Rahmenbedingungen dafür sind geschaffen. Bis zum Jahr 2020 sollen nach Festlegung der Bundesregierung 10 000 Megawatt in der Nordsee und der Ostsee installiert sein." Würde man diese Kapazität nur mit den heute größten verfügbaren Maschinen wie jenen von Repower aufbauen, müsste man allein dafür 1600 bis 2000 Windkraftwerke vor die Küsten stellen.

Bei diesem Geschäft will Bremerhaven ganz vorn dabei sein. In der Halle von Multibrid, gleich nebenan bei Repower, trifft sich die Festgesellschaft nach der Einweihung des Schwerlastterminals zu einer Podiumsdiskussion und einem Imbiss. "Wir haben mit dem Aufbau der Windkraftindustrie in Bremerhaven einen Megatrend besetzt", schwärmt Oberbürgermeister Jörg Schulz von der SPD.

Kampf gegen die Arbeitslosigkeit

Wacker kämpft der Politiker seit gut zehn Jahren gegen den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt an. Die Hochseefischerei ging Bremerhaven in den zurückliegenden Jahrzehnten verloren, der größte Teil der Werftindustrie ebenfalls. Das starke Wachstum des Container- und Autoumschlags im Überseehafen brachte zwar Hunderte neue Arbeitsplätze. Dafür spürt man die Rezession des Welthandels und vor allem den Rückgang des deutschen Autoexports in Bremerhaven nun umso härter. Rund 16 Prozent Arbeitslosigkeit verzeichnet die Stadt - mehr als jede andere in Westdeutschland.

Als Ersatz für das wegbrechende Schiffbaugeschäft setzten Schulz und sein Magistrat seit Beginn des Jahrzehnts auf die Ansiedlung der Windkraftindustrie. "Als ich 2002 hier anfing, arbeiteten in Bremerhaven ungefähr 30 Menschen für die Windkraftbranche, heutzutage sind es ungefähr 800 und in nicht allzu ferner Zeit 1600", sagt Jan Rispens, Geschäftsführer der Windenergie Agentur Bremerhaven.

Der Verein vertritt die Interessen von rund 200 Unternehmen aus Nordwestdeutschland, die an der Fertigung von Windturbinen beteiligt sind oder dazu gehörende Dienstleistungen erbringen. "Gegründet wurde die Agentur, um die Windkraftindustrie mit der maritimen Wirtschaft der Region zu verbinden", sagt der Niederländer. "Das ist uns gelungen."

"Windkrafthauptstadt Deutschlands"

Eine Perspektive könnte das zum Beispiel den Mitarbeitern der wirtschaftlich schwer angeschlagenen Werft SSW Schichau-Seebeck Shipyard in der Stadt verschaffen. Im Januar musste die Werft mit damals rund 300 Beschäftigten Insolvenz anmelden, der letzte Auftrag für ein Containerschiff ging verloren. In einem neuen "maritimen Gewerbepark" auf dem Werftgelände könnten künftig unter anderem Stahlfundamente für Windturbinen auf See gefertigt werden.

Es ist ein langwieriges und mühsames Geschäft, das Ökonomen so trocken "Strukturwandel" nennen. Die Zahl der neuen Arbeitsplätze, die mit der Windkraftindustrie nach Bremerhaven kommt, steht in keinem Verhältnis zu jenen Tausenden Stellen, die in der Automobilindustrie oder im Einzelhandel auf dem Spiel stehen. Doch für die Stadt an der Außenweser birgt die Branche Hoffnung: "Bremerhaven wird die Windkrafthauptstadt Deutschlands werden", ruft Bremens Wirtschaftssenator Ralf Nagel in der Halle von Multibrid bei der Podiumsdiskussion ins Mikrofon. "Die Windindustrie kommt jetzt in die Phase der industriellen Produktion, und Bremen und Bremerhaven müssen die wirtschaftliche Kraft aufbringen, hier weiter mitzuspielen."

Über den Aufbau eines "Heliports" am städtischen Flughafen wird in Bremerhaven diskutiert, einen Hubschrauberflughafen als Basis für die Wartung der Windturbinen auf See. "Bremerhaven betreibt seit Jahren eine konsequente Ausbaupolitik, um die deutsche Hauptstadt für das Offshore-Windparkgeschäft zu werden", sagt Repower-Vorstand Matthias Schulz. "Aber als Basishafen für den Aufbau von Offshore-Windparks in der Nordsee ist die vorhandene Infrastruktur in Bremerhaven noch längst nicht ausreichend."

"In Zukunft noch viel mehr Leistung"

Immerhin, das Geschäft mit der Windkraft wächst stetig, auch die Forschung ist zur Stelle: Im Januar eröffnete die Fraunhofer-Gesellschaft ganz in der Nähe von Repower und Multibrid das Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik. Es verstärkt die Branche in der Stadt mit bis zu 100 Arbeitsplätzen.

Arno van Wingerde nippt an einer Tasse Kaffe und spielt am Modell eines Windrades herum. Der Ingenieur leitet die Materialforschung an Rotorblättern für Windkraftwerke. Das Schmuckstück seines Instituts ist die 60 Meter lange, nach hinten ansteigende Testhalle, in der Außenstehende zu seinem Bedauern nicht zugelassen sind: "Unsere Kunden wollen das nicht", sagt er. "Betriebsgeheimnisse."

Wenn man die 30 oder 40 Meter langen Blätter mit bis zu 50 Tonnen Gewicht biege, bis sie schließlich brechen, "dann wackelt der Boden wie bei einem Erdbeben, das spüren Sie noch hier im Büro, ein paar Hundert Meter entfernt", sagt der Experte. Van Wingerde ist voll in seinem Element: "Weltweit gibt es nur vier oder fünf vergleichbare Institute." Bald soll seines noch eine zweite Testhalle von 90 Meter Länge hinzubekommen. "In Deutschland ist in den letzten 20 Jahren zunächst eine sehr vitale Windkraftbranche entstanden, und erst jetzt wird die Forschung richtig ausgebaut", sagt van Wingerde. "Das bedeutet auch, dass wir aus Windturbinen in Zukunft noch viel mehr Leistung herausholen werden."