Studie zur Überalterung der Gesellschaft. Gewerkschaften sind empört. Kanzlerin fordert längere Lebensarbeitszeiten in Südeuropa

Hamburg. Das Werk umfasst 211 Seiten. Es ist mit vielen Grafiken, wissenschaftlichen Analysen und internationalen Vergleichen gespickt - und birgt eine Menge gesellschaftlichen Sprengstoff. In seinem Gutachten, das der Sachverständigenrat gestern Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu den "Herausforderungen des demografischen Wandels" übergeben hat, fordern die "Fünf Wirtschaftsweisen" die Regierung zum aktiven Handeln auf.

Ihre Kernbotschaft lautet: Die junge Generation muss sich auf noch längere Arbeitszeiten einstellen als bisher angenommen. Bis zum Jahr 2060 müsse das Renteneintrittsalter stufenweise auf 69 Jahre angehoben werden.

Der erste Schritt sollte 2045 erfolgen mit einer Anhebung auf 68 Jahre. Betroffen wären alle Bürger, die nach 1977 geboren wurden. An der geplanten "Rente mit 67", die derzeit in Deutschland kontrovers diskutiert wird, dürfe überhaupt nicht gerüttelt werden, mahnen die Ökonomen. Die neue Altersgrenze sollte auch für die Beamten gelten. Nur dann seien die Konsequenzen beherrschbar, die sich aus der schrumpfenden Bevölkerungszahl und der steigenden Lebenserwartung der Bundesbürger ergeben. "Hier gilt es keine Zeit zu verlieren." Den Ausgleich der Kosten durch höhere Steuern und Beiträge oder über den öffentlichen Haushalt zu decken lehnen sie dagegen ab.

Das Renteneintrittsalter liegt heute für Männer und Frauen bei 65 Jahren. Wer früher ausscheidet, muss Abschläge in Kauf nehmen. Derzeit beziehen die Bürger in Deutschland im Durchschnitt 18,2 Jahre lang Rente. Zum Vergleich: 1960 genossen die Senioren nur zehn Jahre lang ihr Altersruhegeld.

Der neue Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) stellte sich hinter die Empfehlungen. "Der Sachverständigenrat bestätigt unsere Leitlinien für eine langfristig orientierte Wirtschaftspolitik. Die Lebenserwartung steigt, und die Menschen bleiben länger gesund. Dieses Geschenk müssen wir nutzen, um unsere Arbeitsmärkte und Sozialsysteme fit zu machen für die Zukunft."

Bei Gewerkschaften lösten die Ratschläge der Fünf Wirtschaftsweisen dagegen Empörung aus. Die Anhebung sei "völlig aberwitzig und weltfremd", kritisierte die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. Der Vorschlag gehe an der Realität vorbei, meinte IG-BAU-Chef Klaus Wiesehügel: "Die Forderung der Wirtschaftsforscher kann man keinem Bauarbeiter erklären, der jeden Tag hart arbeitet." Die meisten Menschen in körperlich belastenden Berufen schafften es schon heute nicht bis zum regulären Renteneintritt mit 65 Jahren.

Ver.di-Sozialexpertin Elke Hannack verwies wiederum darauf, dass heute nur noch jeder zehnte 64-Jährige sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei. "Deshalb ist es ein Irrweg, das Renteneintrittsalter losgelöst von der tatsächlichen Arbeitssituation ausschließlich aus fiskalischer Perspektive zu diskutieren."

Der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann, bezeichnet die Rente mit 69 dagegen im Abendblatt als unvermeidbar. "Nur so lassen sich künftig die Sozialkosten decken, die durch die längere Lebenszeit der Bürger bei gleichzeitig rückläufiger Geburtenrate entstehen." Der IZA-Chef erachtet sogar eine noch stärkere Anhebung des Rentenalters auf 70 Jahre im Jahr 2030 für sinnvoll.

Der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Gustav Horn, fordert dagegen flexible Rentenregelungen: "Der Alterungsprozess der Menschen verläuft sehr unterschiedlich. Starre Rentenregeln werden den Menschen nicht gerecht. Manche können aus körperlichen oder arbeitsbedingten Gründen nicht länger als bis 62 Jahre arbeiten, andere sind dagegen noch mit 69 Jahren sehr fit", sagte Horn dem Abendblatt. Gleichzeitig gäbe es auch die Möglichkeit, die Beitragssätze zu den Sozialsystemen zu erhöhen.

Bundeskanzlerin Merkel dehnt die Diskussion unterdessen auf Europa aus und forderte längere Lebensarbeitszeiten vor allem auch für die Euro-Schuldenstaaten. "Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen - das ist wichtig", sagte Merkel auf einer Parteiveranstaltung. "Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig."

Allerdings liegt das gesetzliche Rentenalter in allen drei genannten Euro-Ländern bereits auf dem Niveau Deutschlands - und zwar bei 65 Jahren. Betrachtet man den tatsächlichen Berufsausstieg, so sind die Bürger dieser Länder laut OECD-Statistik heute sogar länger im Job aktiv. Scheiden deutsche und spanische Männer mit 61,8 Jahren aus dem Arbeitsleben, machen dies die Griechen erst mit 61,9 Jahren, die Portugiesen sogar erst mit 67 Jahren (siehe Grafik). Auch beim Urlaub hängen die Deutschen mit 30 freien Tagen die Euro-Länder ab. Griechen haben nur 23 Ferientage im Jahr, Portugiesen und Spanier sogar nur 22 Tage.