Das Ingenieurbüro WTM entwarf die künftige Sicherheitskonstruktion für den Unglücksreaktor. Den Auftrag zur Realisierung aber erhielten andere.

Hamburg. Mitte der 90er-Jahre gab es verschiedene Ideen dafür, wie man den Unglücksreaktor von Tschernobyl für lange Zeit sicher von der Außenwelt abschließen könnte. Eine Entscheidung war noch nicht gefallen. Aber damals stand bereits fest, dass der erste "Sarkophag" nur ein Provisorium sein würde. Kurz nach der Explosion des Atomreaktors am 26. April 1986 hatten Hunderttausende sowjetische Soldaten und Hilfskräfte damit begonnen, eine Schutzhülle aus Beton hochzuziehen. Viele von ihnen, die dabei hoher radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, starben später an den Folgen. Der Sarkophag ist von Witterung und Radioaktivität inzwischen stark angegriffen. Er wird aus heutiger Sicht höchstens noch zehn bis 15 Jahre halten.

Im Jahr 1996 bekam der Hamburger Bauingenieur Günter Timm, Teilhaber des Ingenieurbüros WTM Engineer, eine Anfrage des Germanischen Lloyds (GL). Die Zertifizierungsgesellschaft, ebenfalls mit Sitz in Hamburg, bat Timm um die Mitarbeit an einem bautauglichen Entwurf. "Wir haben sofort gesagt: Das interessiert uns", erzählt Timm, 72, bei einem Besuch in der Abendblatt-Redaktion.

Sechs Monate lang arbeitete Timm mit seinen Kollegen von WTM und dem Germanischen Lloyd an dem Entwurf. "Wir dachten, dass eine relativ leichte Halle ausreichen würde, um radioaktiven Staub von innen und Regenwasser von außen abzuhalten. Es muss eine leichte und bewegbare Konstruktion sein. Direkt über dem Reaktor kann man wegen der Strahlung ein so großes Gebäude ja nicht errichten", sagt er. Die Hamburger Experten kalkulierten, dass die neue Abdeckung in Tschernobyl mindestens 100 Jahre lang halten müsse: "20 bis 30 Jahre wird es allein schon dauern, die Ruine des Reaktors mit dem radioaktiven Inhalt zu zerlegen und das dann abzutransportieren", sagt Timm.

WTM und GL reichten die Machbarkeitsstudie bei der ukrainischen Regierung in Kiew ein, auf eigene Initiative und ohne ein Honorar. "Dort war man so begeistert, dass man die Umsetzung des Konzepts später weltweit ausschrieb." So wurden die beiden Hamburger Unternehmen letztlich nicht an der Realisierung beteiligt - obwohl die Hallenkonstruktion, die den zerstörten Reaktor von Tschernobyl künftig überspannen soll, "fast exakt unser Entwurf ist", sagt Timm.

Die Hamburger hatten sich einem Konsortium aus den USA angeschlossen, als die ukrainische Regierung 2006 nach Jahren der Untätigkeit endlich an die konkrete Ausschreibung und die Vergabe des Auftrags ging. Ein französisches Konsortium jedoch erhielt den Zuschlag - auf der Basis des Konzepts, das einst Timm und seine Mitstreiter entworfen hatten. "Für so etwas gibt es in unserer Branche leider keinen Urheberschutz", sagt Timm ohne Groll.

Eine selbsttragende Hallenkonstruktion mit einem Gewicht von 29 000 Tonnen will die Ukraine nun bauen lassen. 257 Meter Spannweite soll die Abdeckung haben, 105 Meter hoch und 150 Meter lang soll sie werden. Auf Schienen, so ist es geplant, wird die riesige Struktur vom Bauplatz in der Nähe des Kraftwerks über den heutigen Sarkophag geschoben und dann vollendet. Rund 900 Millionen D-Mark Kosten hatten Timm und seine Mitarbeiter seinerzeit für den Bau kalkuliert. Mittlerweile geht man von mindestens 1,6 Milliarden Euro aus. Vor allem auch deshalb, weil die Arbeiten in der radioaktiv stark belasteten Umgebung des Atomkraftwerks Tschernobyl extrem kompliziert sind und weil man diesen Aufwand heute realistischer bewerten kann als damals. Zwei bis drei Jahre werde der Bau der neuen Überdachung dauern, schätzt Timm.

Bei WTM ist man stolz auf den Beitrag zur Absicherung der Atomruine, obwohl man den Bauauftrag nicht bekam. Timm schied 2005 nach 34 Jahren als Partner bei WTM aus und ging in den Ruhestand. Er verließ ein gut bestelltes Haus: WTM ist das größte Ingenieurbüro in Hamburg und eines der größten inhabergeführten in Deutschland. 130 der insgesamt 160 Angestellten arbeiten in der Hansestadt.

Energie- und Infrastrukturprojekte - darunter die Tunnelkonstruktion zur Querung des Fehmarnbelts - beschäftigen WTM heute wie auch schon früher in der 75-jährigen Firmengeschichte. "Wir sind in viele Projekte für die Energiewirtschaft involviert, zum Beispiel mit Fundamentkonstruktionen für den Aufbau von Windkraftwerken auf See", sagt Stefan Ehmann, 42, einer der heutigen Geschäftsführer.

Mit dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima trat im März auch die Atomkraft auf unrühmliche Weise wieder in den Vordergrund. 25 Jahre liegt die Katastrophe von Tschernobyl schon zurück. Aber bis heute ist um den havarierten Reaktor keine für längere Zeit haltbare Schutzhülle gebaut worden. Ein schlechtes Vorbild für Japan. Er vermute, dass das Land mit seinen "sehr guten Ingenieuren" die Absicherung in Fukushima selbst in den Griff bekommen werde, sagt Ehmann: "Aber sollten sich japanische Stellen mit Bitte um Unterstützung an uns wenden, würden wir uns dem sicher nicht verwehren."