Experten warnen vor Sekundenschlaf. Nach EU-Richtlinie können nächtliche Flugzeiten jetzt sogar auf zwölf Stunden ausgeweitet werden.

Hamburg. Lkw- und Busfahrer dürfen in Europa maximal neun Stunden am Steuer sitzen, Piloten aber bis zu 15 Stunden. Dabei trägt Übermüdung, wie Studien belegen, häufig zu Flugunfällen bei. Dennoch will die Europäische Union jetzt sogar noch längere Dienstzeiten für Piloten zulassen und die Ruhezeiten kürzen.

"Wir befürchten den bisher größten Rückschritt in der europäischen Flugsicherheit", sagte Jörg Handwerg, Sprecher der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) und selbst Flugkapitän, dem Abendblatt. Er bezieht sich auf einen Entwurf der europaweit zuständigen Flugsicherheitsbehörde EASA in Köln. Dieses Papier bildet die Basis für neue EU-Bestimmungen, die im April 2012 in Kraft treten sollen.

Demnach sollen sich unter anderem die in der Nacht erlaubten Dienstzeiten von bisher elf Stunden und 45 Minuten auf zwölf Stunden verlängern. Vor allem aber ist vorgesehen, die Mindestruhezeit der Piloten am Zielort von bisher zehn Stunden auf bis zu 7,5 Stunden zu verkürzen. "Mehr als fünf Stunden Schlaf kriegt man dabei nicht", sagt Handwerg. "Da widerspricht sich die EASA selbst, denn sie hält acht Stunden für erforderlich."

Kritik kommt auch von Wissenschaftlern. So hat der Flugphysiologe Martin Vejvoda vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) wenig Verständnis für die EASA-Vorschläge. Dazu weist er auf eine eigene Untersuchung zum Sekundenschlaf von Piloten auf Fernstrecken hin: "Die Anzahl des Sekundenschlafs auf dem Rückflug war doppelt so hoch wie auf dem Hinflug", sagte der Forscher dem Fernsehsender WDR.

Vejvoda ist einer von zehn Experten, die im Jahr 2008 in dem sogenannten Moebus-Bericht wissenschaftliche Empfehlungen zu den Flugdienstzeiten formulierten. Der Studie zufolge sollten Piloten etwa auf Nachtflügen nicht länger als zehn Stunden Dienst tun. In den USA folgte man dem Rat der Wissenschaftler: Dort sind während der Nacht nur neun Stunden zulässig.

Doch obwohl die EASA den Moebus-Bericht in Auftrag gegeben hatte, ließ die Behörde die Empfehlungen offenbar weitgehend unbeachtet. "Außer den wirtschaftlichen Interessen der Branche spiegelt sich in dem aktuellen Vorschlag nichts wider", sagt Handwerg. Der Leiter der zuständigen EASA-Abteilung, Jean-Marc Cluzeau, verwahrt sich gegen diese Auffassung - er hält den Gesetzentwurf für ausgeglichen und angemessen. Auch der Verband Europäischer Fluggesellschaften (AEA) kann die Kritik nicht nachvollziehen. Er kritisierte den Moebus-Bericht als unwissenschaftlich und nicht objektiv. Es scheine, als wollten die Pilotengewerkschaften mit ihren Forderungen nach kürzeren Dienstzeiten vor allem erreichen, dass mehr Piloten eingestellt werden müssten und somit die Gewerkschaften mehr Mitglieder gewinnen könnten, sagte AEA-Generalsekretär Ulrich Schulte-Strathaus. Der Verband verweist zudem darauf, die bisherigen europäischen Regelungen hätten schließlich seit Jahrzehnten für einen sicheren Flugbetrieb gesorgt.

Dieses Argument hält Handwerg allerdings für nicht überzeugend, denn bei sehr vielen der etablierten Fluggesellschaften in Europa setze gar nicht das Brüsseler Gesetz die Grenze für die Flugdienstzeit. Stattdessen gälten dort Tarifverträge mit häufig strengeren Bestimmungen. In Deutschland haben unter anderem die Lufthansa und nach eigenen Angaben auch Air Berlin solche Tarifverträge. Konkurrenten wie der irische Billigflieger Ryanair dagegen wenden die europäischen Regeln an, wie ein Firmensprecher dem Abendblatt bestätigte - und werden damit künftig auch die Lockerungen nutzen.

"Die jüngeren Unternehmen fliegen am gesetzlichen Limit, und das verstärkt natürlich den Druck auf die anderen", sagte Handwerg dazu. "Außerdem steigt der Anreiz, neue Tochtergesellschaften zu gründen, für die kein Tarifvertrag mehr gilt." Doch enthalten auch solche Verträge eine Klausel, deren Anwendung die Pilotengewerkschaft für problematisch hält: den sogenannten Kommandantenentscheid. Während zum Beispiel nach EU-Recht die maximale Flugdienstzeit bei 13 Stunden liegt und zweimal pro Woche sogar 14 Stunden erlaubt sind, darf der Kapitän diese Obergrenze für die gesamte Besatzung noch einmal um eine weitere Stunde hochsetzen. Gedacht ist dies als Ausnahmeregelung, damit auch nach unvorhersehbaren Verzögerungen noch ein Rückflug legal möglich ist und die Passagiere nicht warten müssen, bis eine neue Crew eintrifft.

"Wir sehen aber immer häufiger Einsatzplanungen, die bis auf die letzte Minute ausgereizt sind und bei denen absehbar ist, dass es an vielen Tagen gar nicht ohne den Kommandantenentscheid gehen wird", sagte Handwerg: "Das ist ein Missbrauch der Regeln."

Aber nicht nur die Bestimmungen an sich müssten nach Auffassung des Gewerkschafters verschärft werden, sondern auch ihre Überwachung: "Bei mir ist in 20 Berufsjahren die Einhaltung der Flugdienstzeiten noch nie kontrolliert worden."