Nur zum Umsteigen mal kurz auf einem Flughafen gewesen sein, nee, das gilt nicht. "114 Länder - mit Übernachten." Harald Schmitt kann sich das Schmunzeln selbst nicht so ganz verkneifen, nachdem er seine Vielflieger-Statistik mitgeteilt hat.

Es gibt weitere Zahlen, die mindestens genauso beeindruckend sind: Die Bilddokumentation beim "Stern" hat zusammengezählt, wie viele Fotos von Schmitt in den Archiven ruhen. Das Ergebnis: 340 000 bis 420 000, dazu 153 Dia-Mappen mit 30 000 Bildern. "Arbeitszeit des Lebenswerks: etwa eine Stunde Dauereinsatz Deines Zeigefingers", schrieb der Leiter der Abteilung in seiner Bilanz-Mail an Schmitt. Schmitt registriert das, bescheiden und scheinbar unbeeindruckt. Ist halt so. Jemand, der lebenslang und weltweit das Auge für Millionen von Lesern war und ihnen half, den Rest der Welt in guten wie in schlechten Zeiten anschaulich vorzuführen, ist so schnell nicht mehr aus der Ruhe zu bringen.

In einem selbst verfassten Lebenslauf schrieb Harald Schmitt über Harald Schmitt: "Ich arbeite für fast alle Ressorts und habe mich bewusst nicht auf bestimmte Themen festgelegt. Die Welt ist bunt."

Der Horizont seiner eigenen Welt-Karriere erweiterte sich rasant. Schmitt wurde 1948 geboren, nach seiner Ausbildung zum Fotografen sammelte er erste Presse-Erfahrungen bei der "Trierischen Landeszeitung". Danach war er Sportfotograf, 1972 wechselte er zur Fotoagentur Sven Simon. Wirtschaft und Politik vor allem, was so anlag. Seit 1977 fliegt er für den "Stern" von Hamburg aus als Fotoreporter in alle Himmelsrichtungen und Zeitzonen. Wenn es sein musste, und das war ziemlich oft der Fall, auch innerhalb weniger Stunden. Die Details des Themas wurden dann eben während des Flugs studiert.

Nur mal so beispielsweise: Schmitt war seit 1977 fünfmal in der Mongolei und neunmal bei der Tour de France, er saß mit Jan Ullrich im Team-Wagen und war Augenzeuge der Anspannung auf dem Gladiatoren-Gesicht, die sonst keiner sehen durfte. Wenige Tage vor unserem Gespräch war er noch mit einem schreibenden Kollegen auf Jamaika gewesen, dem Sprint-Wunder und Weltrekord-Abonnenten Usain Bolt dicht auf den Fersen. Mit dem Literatur-Nobelpreisträger und Regimekritiker Solschenyzin ist er durch Norwegen gereist und mit dem SED-Parteichef und Regime-Anführer Honecker nach Japan und Sambia. Der Diktator Idi Amin war ebenso vor seiner Linse wie der Box-Gott Muhammad Ali.

Schmitt hat die Anfänge der DDR-Friedensbewegung dokumentiert, die ihn nachhaltig beeindruckten. Im Laufe der Ost-Berliner Dienstjahre staute sich aber so viel Ärger über Schmitt bei den Motiven seiner Arbeit an, dass sein Visum 1983 nicht mehr verlängert wurde. Die Machthaber nahmen unter anderem übel, dass Schmitt sich immer wieder einen Spaß daraus machte, seinen MfS-Verfolgern die Lächerlichkeit ihres weithin sichtbaren Tuns genüsslich vorzuführen. In den Protokollen aus sechs Jahren Beschnüffelung, die mehrere Ordner füllen, revanchierte sich die Stasi beim "Stern"-Mitarbeiter mit dem wenig einfallsreichen Observierungsnamen "Linse".

Nachdem im Berliner Martin-Gropius-Bau zuletzt eine große Werkschau der Fotografin Herlinde Koelbl präsentiert wurde, folgt nun - am symbolträchtigen 3. Oktober ist Eröffnung - eine Ausstellung mit 120 Fotos aus jenen Jahren, als der implodierende Ostblock seinen machtlosen Machthabern nicht immer friedlich um die Ohren flog. "Sekunden, die Geschichte machten" zeigt Momentaufnahmen des Umbruchs, unter anderem aus der DDR, aus der Sowjetunion, aus Polen, aus Lettland, Litauen und China. Dubcek neben Havel 1989 auf einem Podium, die Entmachtung Gorbatschows durch Jelzin nach dem Moskauer Putsch 1991, Lech Walesa 1980 mit der Gabelstaplerfahrerin Anna Walentynowicz, deren Entlassung den "Solidarnosc"-Stein auf der Danziger Werft ins Rollen brachte. Volker Schlöndorff hat 2005 den Film "Strajk - Die Heldin von Danzig" über sie gedreht. Auch das berühmt gewordene Foto der Szene, als Honecker dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember 1981 auf dem Bahnhof von Güstrow einen Bonbon in den Zug hochreicht, ist von Schmitt. "Wenn wo was los war, war ich dabei", lautet sein ganz unaufgeregter Kommentar.

Im Laufe der unzähligen Dienstreisen kamen 17 randvoll bestempelte Reisepässe zusammen. Eine Menge, die Schmitt dann doch überrascht, er hatte auf fünf bis sieben getippt. 15 liegen im Schrank, die anderen beiden wechselweise in irgendwelchen Visa-Abteilungen. Vorbereitet sein ist alles, erst recht in seinem Metier, bei dem es im Ernstfall um Hundertstelsekunden geht.

Der Beruf ist längst Lebensaufgabe geworden. Schmitts Wohnung ist voller kurioser Andenken; Souvenirs von Reportage-Themen. Jedes einzelne löst bei ihm eine Flut von Anekdoten aus, auch hier hatte er ein untrügliches Auge für das ganz Besondere. Eine Plüsch-Gebetsrolle aus dem jüdischen Viertel von Antwerpen als Erinnerung an eine Serie über die großen Weltreligionen auf dem Sofa, eine Büste von Karl Marx - feinstes realsozialistisches Meißener Porzellan, in Berlin Unter den Linden für 800 Ost-Mark erstanden - oder eine Mbela an der Wohnzimmerwand, ein archaisches Musikinstrument der zentralafrikanischen Pygmäen, die er 2001 mit dem französischen Musikethnologen Simha Arom besuchte.

Der Versuch, in Schmitts Arbeitszimmer auch nur annäherungsweise einen Überblick über die Themenvielfalt der letzten drei Jahrzehnte zu bekommen, endet in einem Berg aus Bildern, in dem er so glücklich sitzt wie ein Kind im unbewachten Süßwarenladen, mit einem dezenten Stolz, der fast rührend ist. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie groß die Welt ist und wie aufregend. Wie verdammt viel man von ihr leider noch nicht gesehen hat und so garantiert nie sehen wird. Schmitt hat, und er ist dankbar dafür. "Eigentlich war das nie richtig Arbeit", sagt er, als ob alles immer ganz einfach und unanstrengend und niemals gefährlich gewesen wäre.

Beim Thema professionelles Selbstverständnis legt Schmitt großen Wert auf kleine, feine Unterschiede. "Ich sehe mich nicht als Fotograf", meint er, "sondern als Fotoreporter. Darauf lege ich großen Wert." Schließlich hat er beim "Stern" einen Reportervertrag. "Fotograf, das ist für mich jemand, der ein Bild stellt. Meine Aufgabe ist, für den Leser das, was ich sehe, in Bildern umzusetzen. Damit man später sehen kann, was da war. Dass dabei manchmal ein Foto herauskommt, das künstlerisch ist, das mag sein. Aber als Künstler sehe ich mich nicht." Eines seiner Idole ist W. Eugene Smith, einer der Giganten der modernden Fotoreportage. Der habe zweimal beim Magazin "Life" gekündigt - seine Bilder waren nicht so im Heft erschienen, wie er das gern gehabt hätte. "Das waren noch Zeiten ..."

Diese Zeiten sind längst und endgültig vorbei im rasend schnellen Rennen um das beste Bild, das tollste Motiv, die aufregendste Perspektive. Die Konkurrenz ist global, der Verdrängungskampf ist brutal geworden und die Qualität des Angebotenen steigt und steigt. Als Schmitt beim "Stern" anfing, gab es dort noch etwa 20 weitere Fotografen. "Wir waren so etwas wie die Nationalmannschaft", erinnert er sich an diese legendäre Ära zurück, der das Hamburger Magazin sein Renommee verdankte, die umwerfendsten Fotos auf beliebig langen Bildstrecken zu zeigen. Kosten spielten dabei keine Rolle. Wenn es die Möglichkeit gab, einen der begehrten Hubschrauber-Mitflugplätze beim America's Cup zu bekommen, und der kostete 4000 Dollar am Tag, oder auch pro Stunde, dann fackelte man vor Ort nicht lange. Warum wegen solcher Kinkerlitzchen wie Spesen in der Heimatredaktion um Erlaubnis fragen. Das Bild war wichtiger als Geld.

Jetzt ist Schmitt einer von noch zwei fest angestellten "Stern"-Fotografen. Er geht im nächsten Jahr in die Altersteilzeit und bezeichnet sich selbst ironisch als "Dinosaurier". Volker Hinz macht nur Porträts, Schmitt so ziemlich alles andere. Außer Krieg und Krisengebiete. Dafür steckte ihm ein Erlebnis 1991 in Lettland zu sehr in den Knochen. Ein Kollege, nur wenige Meter entfernt, Bauchschuss, eine russische Kugel, die stoppen sollte, was längst nicht mehr aufzuhalten war. Die Wahrheit und den politi-schen Wandel. Man soll sein Glück in solchen Augenblicken auf Messers Schneide nicht allzu oft herausfordern, diese Lektion hat Schmitt damals gelernt und beherzigt sie kategorisch. Nicht nur die eigenen Nerven beruhigt das, auch die seiner Frau Annette, eine Diplom-Restauratorin, die er während seiner Zeit als BRD-Fotograf in der DDR kennengelernt hat.

Bei der Frage nach Fernweh kann Schmitt nur noch sehr gelassen lächeln. "Fliegen macht schon lange keinen Spaß mehr, und auch mit irgendeinem dienstlichen Reiseziel bin ich nicht mehr zu ködern, Wahrscheinlich war ich sowieso schon da ..." Privat fotografieren, das passiert ihm nur sehr selten und höchstens mit einer ganz einfachen Digitalkamera. Für die Region, an die er sein Herz verschenkt hat, braucht es ohnehin keinen der 17 Reisepässe. "Für mich ist das nordfriesische Wattenmeer der schönste Teil der Welt", sagt er und schiebt zur Sicherheit noch hinterher: "Und das meine ich ganz ernst."

Ausstellung: "Sekunden, die Geschichte wurden. Fotografien vom Ende des Staatssozialismus". 3.10.-13.12., Martin-Gropius-Bau, Berlin. Der Katalog (256 Seiten, 18 Euro) mit Texten von Peter Sandmeyer erscheint im Oktober im Steidl-Verlag. Eine Auswahl der "Stern"-Fotos von Harald Schmitt sehen Sie in einer Bildergalerie auf www.abendblatt.de/schmitt