Es gab die Aufklärung. Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Trotzdem sind wir Fans von Serien wie X-Files und zitieren immer wieder “Wunder“ - von Bern, - von Lengede und - vom Hudson. Sie sind nicht aus der Welt zu schaffen, meint unsere Autorin Irene Jung.

Wir sind von Wundern geradezu umzingelt. Das "Wunder von Bern". Das Wirtschaftswunder. Das "Wunder der Tiefsee". Die geglückte Notlandung eines Passagierflugzeugs - das "Wunder vom Hudson". Zarah Leander wusste, "es wirrrd einmal ein Wundärrr geschehn", und Katja Ebstein singt, dass Wunder sogar "immer wiihiieder" kommen.

"Wunder" wird heute auf alles bezogen, was unbegreiflich, unerwartet, staunenswert und überwältigend ist. Von der Evolution über das Fräuleinwunder und den Wonderbra bis zu Wunderheilungen und "übernatürlichen" Erlebnissen.

Die meisten Deutschen haben mit Wundern auch überhaupt kein Problem. In einer Allensbach-Umfrage 2006 beantworteten 56 Prozent von ihnen die Frage "Glauben Sie an Wunder?" mit Ja. 54 Prozent sind davon überzeugt, dass manche Menschen eine drohende Gefahr im Voraus spüren, 51 Prozent glauben an Schutzengel, 45 Prozent halten Gedankenübertragung für möglich. Nur 30 Prozent meinen, Wunder seien reine Zufälle.

Da hatten wir die Aufklärung, den großen Ansturm der Vernunft; da leben wir in einer Wissensgesellschaft, die Unbegreifliches ständig entzaubert - und trotz alledem sind Wunder auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht ausgestorben. Warum? Haben wir einen Hang zur Wiederverzauberung unserer komplizierten Welt? Sind wir geboren, uns zu wundern?

Höchste Zeit, die Zähigkeit des Wunders genauer zu betrachten, fanden die Geschichtswissenschaftler Alexander Geppert und Till Kössler und organisierten in Essen kürzlich den ersten interdisziplinären Wunder-Kongress. Vorwiegend junge Forscher/innen, aber auch Computerspiel- und Medien-Experten rückten dem Wunder mit kühnem Griff zu Leibe. In Hamburg befasst sich das Körber-Forum im Juni in einer Veranstaltungsreihe mit "Anleitungen zur Wundersuche".

Das Wort hat Konjunktur. Ein Wunder ist ja auch immer schön (hat mal jemand von einem hässlichen Wunder gehört?), ob nun in der Fantasie, im großen Kosmos oder im Mikrokosmos. Die Bilder des Hubble-Teleskops, die Details eines Insektenauges, Einblicke in die Welt der Einzeller und der DNA-Bausteine - sie alle umgibt eine Aura des Futuristischen, Erhabenen, das unser menschliches Fassungsvermögen irritiert. Das ruft Staunen, Bewunderung, Ergriffenheit hervor.

Solche Gefühle hatten wir, als etwa in den 1980er-Jahren die ersten Fotos von ungeborenen Föten erschienen: das "Wunder des Lebens", aufgenommen mit einer Spezialkamera in der Gebärmutter von Schwangeren. Es war, als dringe man in eine geheime, geschützte Welt vor. Der französische Gynäkologe Frederick Leboyer sprach deshalb vom "Wunder des Gebärens", bei dem Frauen eine "spirituelle Tiefe" empfänden, so schrieb er in seinen Bestsellern über die sanfte Geburt.

Gefühle sind überhaupt die Geburtskanäle des Wunders. Genau deshalb könnte sich das Wunder modernisiert haben: Es wanderte einfach in die Welt der Wissenschaft hinüber, genauer: in die populäre Wissenschaftsvermittlung. Denn auch nüchterne Wissenschaftler sind begeistert und leidenschaftlich am Werk. In trockenen Forschungsberichten fällt diese Leidenschaft unter den Tisch - in Berichten über die Wunder des Weltraums, des Meeres oder der Teilchenphysik kann sie gefeiert werden ("Das Wunder von Cern", in "PM").

Manche Forscher erkannten das schon früh. Der Hamburger Arzt Dr. Max Nonne beispielsweise entwickelte nach dem Ersten Weltkrieg ein Hypnoseverfahren, um Kriegszitterer, Granat- und Verschüttungsopfer zu heilen. Er zeigte seinen Studenten am UKE (Stumm-)Filmaufnahmen, in denen er im bodenlangen weißen Kittel wie eine Erlöserfigur an die Seite der zitternden Patienten trat und ihnen scheinbar allein mit seinen Händen die Ruhe wiedergab. Eindeutig kopierte Nonne die Pose eines Wunderheilers.

In den "jungen", wachsenden charismatischen Kirchen sind Erweckungserlebnisse und Wunderheilungen heute selbstverständlich. In der katholischen Kirche gab es unter Papst Johannes Paul II. eine Flut von mehr als 480 Heiligsprechungen, für die jeweils auch außergewöhnliche "Zeichen" und der "Ruf der Wundertätigkeit" bestätigt werden mussten.

Die Protestanten dagegen sind deutlich vom Wunderglauben abgerückt. Vor allem der evangelische Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976) hat das Neue Testament konsequent entmythologisiert: Die Wundertaten Jesu sollten nicht wörtlich verstanden werden, schrieb er. Dem modernen Menschen sei unverständlich, warum Gott die natürlichen Gesetze außer Kraft setzen sollte.

Bultmanns Wirken hatte Folgen: Die Kirche ist kein Ort mehr, wo Menschen von "wundersamen", eigenartigen oder als übernatürlich empfundenen Erlebnissen berichten können. Schon die Nahtoderlebnisse, mit denen sich die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross als erste intensiv beschäftigte, stoßen in Kirchenkreisen auf Skepsis. Diese Nahtoderfahrungen haben aber die Vorstellungen vieler Menschen über das Sterben und das Jenseits beeinflusst. Sind das nun Rückfälle in magisches Denken? Ist das schon Esoterik oder Parapsychologie?

1919 startete der Berliner Amtsrichter Albert Hellwig einen Aufruf in Zeitungen. Er wollte aus der Bevölkerung "Nachrichten über Ahnungen, die Anmeldung Gefallener, Träume, Vorzeichen und dergleichen" in Erfahrung bringen, weil er vermutete, dass ein so gewaltiges Ereignis wie der Erste Weltkrieg ein "äußerst günstiger Nährboden" dafür sein müsste.

Hellwig vermutete richtig. Zu den zahlreichen Rückmeldungen gehörte dieses klassische Beispiel: Ein Kriegsteilnehmer berichtete, wie er verwundet in der Nähe eines Bombentrichters lag und in seiner Verzweiflung nach seiner Mutter gerufen habe. Am selben Tag zur selben Zeit habe seine Mutter zu Hause plötzlich gesagt: "Jetzt ist dem Fiff etwas passiert, ich hab ihn rufen hören."

Auch auf eine Artikelserie der "Bild"-Zeitung ("Dein sechster Sinn", 1967) meldeten sich 1565 Leser/innen mit eigenen paranormalen Erfahrungen, in der Regel im Zusammenhang mit existenziell bedeutsamen Ereignissen wie Erkrankung, Verletzung, Todesgefahr und Tod. Beispiel: Eine Mutter erleidet einen schweren Herzanfall. Ihr 13-jähriger Sohn "spürt" in der Schule, dass etwas nicht stimmt, läuft nach Hause und kann noch rechtzeitig Hilfe holen.

Mit solchen "subjektiven Spontanphänomenen" befassen sich wissenschaftliche Einrichtungen etwa in England, Frankreich und Österreich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts. In Deutschland wollte die ernsthafte Wissenschaft mit der "Spökenkiekerei" nichts zu tun haben.

Deshalb sprechen Menschen, die solche Erlebnisse haben, darüber nur in einer "geschützten Kommunikation", sagt die Soziologin Ina Schmied-Knittel vom Freiburger "Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene" (siehe Text links). Ihnen ist wichtig, dass sie nicht für Spinner gehalten werden. Ein Grund für die Vorsicht kann der "Realitätsdruck" der Wissenschaftsgesellschaft sein: Wir alle sind gewöhnt, eine strikte Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion, zwischen objektiven und subjektiven Erfahrungen zu ziehen. Paranormalen Erlebnissen wird der objektive Realitätsgehalt abgesprochen. Wer darüber redet wie über Urlaubserlebnisse, macht sich verdächtig, an Realitätsverlust zu leiden.

Dabei befassen sich Tausende Menschen etwa mit dem "Electronic Voice Phenomenon": Das ist der Versuch, aus Schallwellen (etwa von fließendem Wasser auf Tonband) Satzfragmente zu erkennen, mit denen Verstorbene Kontakt zu den Lebenden aufnehmen. Im geschützten Raum einer Familienfeier kann man erzählen, dass man so etwas versucht. Aber niemand würde zu seinem Chef gehen und sagen: "Ich bin etwas später gekommen, weil mir in der S-Bahn meine verstorbene Schwester erschienen ist."

Die Bereitschaft, für "übersinnliche", traumartige und märchenhafte Erfahrungen offen zu sein, ist offenbar menschheitsbegleitend. Wie ein Gen, das in Situationen großer Anspannung, Not oder Trauer "angeschaltet" wird und das tröstliche Vorstellungen zulässt - bis die Trauerarbeit den Schmerz mit der Zeit überschreibt.

Interessanterweise stehen gerade jüngere Männer und Frauen unter 30 Jahren paranormalen Phänomenen offener gegenüber als ältere, zeigen Umfragen. Die Forscher des Freiburger "Instituts für Grenzgebiete der Psychologie" vermuten, dass diese Aufgeschlossenheit etwas mit dem TV-Mystery-Boom und Serien wie "Akte X", "X-Faktor" oder "Psi-Faktor" zu tun hat.

Der "Generation X-Files" erscheint die "Möglichkeit des ganz Anderen" offenbar plausibel.