Die Geschichte der Schummelzettel begann im alten Rom. Heute benutzen Schüler Scanner, Drucker und Ultraviolett-Tusche.

Die Klassenarbeit in Geschichte stand an. Ein cleverer Schüler hatte sich besonders gut vorbereitet, aufgeregt war er nicht. Rechts neben sein Klausurblatt stellte der Junge eine Fanta-Flasche, Geschmack orange. Die Lehrerfragen zur amerikanischen Politik in den 20er-Jahren sind offensichtlich kein Problem. Während der Schüler seine Antworten schreibt, schielt er immer wieder auf die Limonade mit 30 Prozent Fruchtsaftgehalt.

Denn auf deren Etikett stehen statt Fakten über Zuckergehalt und Geschmacksverstärker kurze Stichworte zur US-Historie, wenn auch mit Rechtschreibfehlern: "Ganz Amiland", "Wirtschaftskrise wegen Liberalismus", "Roosewelt schafft durch New-Deal Arbeit".

Der Junge hatte viel Fantasie, das Fanta-Etikett eingescannt, geändert und farbig wieder ausgedruckt. Fast genial, zollt der pensionierte Lehrer Günter Hessenauer Respekt, denn kein Pädagoge "würde einen Schüler der Gefahr desDehydrierens aussetzen".

Die Brause-Pulle ist zweifellos das Highlight in der Spicker-Sammlung von Günter Hessenauer. In 40 Jahren täglichen Schuldienstes hortete der Nürnberger nicht nur die klassischen, eng beschriebenen Zettelchen, die verzweifelte Prüflinge im Falle des Falles verängstigt aus Hosentasche, Rocksaum, Federmappe oder Gipsverband zogen. Kreativer war ein Schüler, der im Ziffernblatt seiner Armbanduhr eine Minirolle mit chemischen Formeln versteckte. Oder jemand, der in der hohlen Kugelschreiberhülle ein Blatt verbarg. Mehr als 600 papierene Betrügereien übergab Hessenauer Forschern an der Uni Nürnberg. Ab 23. Januar sind viele der Spicker im Schulmuseum der Stadt zu sehen.

Schon vor mehr als 2000 Jahren misstrauten die Menschen ihrem vermeintlich löchrigen Gedächtnis. Philosophen und Geschichtsschreiber berichten über Schummeleien in den Schulen der alten Römer. Manche Archäologen glauben sogar ausgegrabene, bekritzelte Scherben als die ersten Zeugnisse schwachen Gehirns identifiziert zu haben. Das Wort Spickzettel, so fanden Historiker heraus, stammt von der mittelalterlichen Tradition, "einen Braten zu spicken, damit er fetter wird, mehr Inhalt bekommt", wie Annette Scheunpflug von der Nürnberger Fakultät für Erziehungswissenschaften weiß.

Im 20. Jahrhundert setzte die Hochphase der Schummelzettel an. Erst gab es den guten alten Spicker, winzig gefaltet, mit spitzem Stift verfasst. Im Nürnberger Schulmuseum liegen zwei Exemplare aus den Jahren 1927/28. Nicht wenig anders als deutsche Schüler 40 Jahre später versuchten damals Mädchen und Jungen mit neumodischen Füllern und zerlaufender Tinte ihre Lehrer zu überlisten.

Spätestens in den 80ern schafften die Manager der neuen Medien andere Voraussetzungen für den handgeschriebenen Schummelzettel. Schüler kopierten ganze Buchseiten oder druckten in 2-Punkt-Arial-Schrift Mini-Blätter aus.

Ahnungslose Pennäler finden im Internet alle Tricks und Kniffe der Profi-Abschreiber, auch aus längst vergangenen Tagen. Denn während über Zahlen und Vokabeln auf Radiergummis, Linealen und Federtaschen die Lehrer nur noch mitleidig lächeln, müssen sich die Pauker an von innen beschriftete Basecaps noch gewöhnen. Wenn der Lehrer allerdings etwas bemerkt, so warnen die Betreiber der Seite schoolunity.de bleibt für den Schüler kaum eine Möglichkeit, sich herauszureden.

Die unangefochtene Nummer eins der Spicker-Charts führt mittlerweile eine Geheimschrift an, die aus den Hogwarts-Laboren eines Harry Potter stammen könnte. Die Schüler schreiben die Prüfungsantworten einfach auf ein leeres Blatt Papier. Mit einem scheinbar normalen Kugelschreiber, in den eine UV-Diode eingebaut ist, die auf Knopfdruck leuchtet, "sieht man seine Aufzeichnungen". Kommt der Lehrer, so der Tipp, "UV-Diode aus, Kugelschreiber umdrehen und normal weiterschreiben".

Trotzdem bleiben die traditionellen Zettelchen, mit mikroskopischer Genauigkeit auf Löschpapier, Taschentuch oder Linealrückseite gekritzelt, allemal handwerkliche Meisterstücke. Denn ein handgeschriebenes Exemplar ist "pädagogisch äußerst wertvoll", sagt Hessenauer. Die Schüler komprimierten ihr Wissen. Genau das, was die Lehrer wollen.

Dabei lassen die Mädchen und Jungen nichts unversucht, um die Pauker zu überlisten. Ob auf einer Zigarettenschachtel das halbe Strafgesetzbuch stand, Mini-Schriftrollen, auf Streichhölzer aufgerollt waren oder ein Prüfling für seine Religionsarbeit die Bibel zehnmal verkleinerte und ein Liliput-Buch, zweimal so groß wie ein 1-Cent-Stück, schuf. "Das sind Kunstwerke", staunt Pensionär Günter Hessenauer respektvoll. In zahlreichen Internet-Foren erinnern sich ehemalige Schüler ihrer Jugendsünden. Ein Kumpel von "dragonia69" spannte einst ein "ein Meter langes und fünf Millimeter hohes Papierband so zwischen zwei halbe Streichhölzer, dass er das geschriebene äußerst unauffällig, auf und wieder abspulen konnte." Heute gesteht Steffen ein, dass er seine Spicker früher "entweder nicht mehr lesen konnte oder es stand das Falsche drauf". Und Dagmar gibt zu, "erwischt wurde ich einmal, geholfen hat er keinmal, bestanden habe ich trotzdem".

Als Tipp im Nachhinein sagt Pädagoge Hessenauer: "Ein DIN-A4-Zettel fällt viel weniger auf." Die Lehrer seien ja auf die kleinen Zettel geeicht und "bemerken die großen vielleicht nicht so schnell".