War es wirklich nur ein Zufall, dass Rodolphe Lindt, Sohn eines Apothekers und Confiseurmeisters, 1879 das süße Geheimnis der Schokolade entdeckte? Heute wird bei Lindt & Sprüngli geforscht und probiert, bis neue Kreationen, Pralinen vom Feinsten, die Genießer erreicht. Ralf Nehmzow besuchte die Schokotraum-Fabrik.

Kilchberg am Zürichsee. Schokoladenduft liegt in der Luft. Steigt in die Nase. Vor allem vor den Bürohäusern hinter dem Parkplatz, an der Seestraße. Hier wirken die Maîtres Chocolatiers, werden neue Pralinen erfunden. Geheimnisse um cremige Kreationen, die behütet werden, bewacht wie erlesene Perlen - dort sind die Forschungslabors von Lindt & Sprüngli, die Hauptproduktionsstätte und Schokoladenfabrik des Weltkonzerns, der in Zürich residiert, seit gut 160 Jahren.

Jetzt, da die Weihnachtszeit naht, hat die Schokoladenfirma Hochkonjunktur. In der Niederlassung in Aachen sind längst Millionen Weihnachtsmänner aus Schokolade über die Fließbänder gelaufen, von dort rund um den Erdball geliefert worden, die mit den Goldglöckchen, im vergangenen Jahr waren es 29 Millionen. Und auch in Zürich rüsten sich die Lindt-Chocolatiers für den Ansturm. Mit einem Lindt-Weihnachtsmarkt (noch bis zum 22. Dezember) zum Beispiel.

Sollten Sie bei der Lektüre dieser Zeilen Schokolade kauen, macht nichts. "Schokolade macht nicht dick, sondern glücklich", behauptet zumindest Ernst Tanner, oberster Chef des Schokoladenkonzerns mit Milliardenumsätzen und Vertretungen von Stockholm bis Dubai.

In den Forschungslabors am Zürichsee arbeiten neben den Maîtres, Lebensmittel-Ingenieure und Schokoladentester - Experten wie einst Hans Geller. Jahrzehnte hat er dort Pralinen kreiert, zuletzt als Senior Maître Chocolatier, als Chef der Schoki-Forscher. Heute ist er 70 Jahre alt, Rentner. Und freier Mitarbeiter, der gelegentlich Besuchern die Welt der Lindt-Schokolade erklärt. 1963 kam der gelernte Konditor zu Lindt. Und blieb. In den Labors schuf er Schokoladen-Kreationen. Die Geburt einer neuen Praline? "Das kann oft Jahre dauern, es ist kein leichter Prozess", sagt Geller. Man mischt Zutaten, schmeckt, mischt, schmeckt wieder. Schokolade essen und dafür bezahlt werden... "Ja, wenn man es so sieht, sicher ein Traumjob", sagt er und lächelt, obwohl der kreative Job doch auch oft harte Arbeit sei.

Ein paar Gebäude, und wir sind bei der Produktionsstätte der bereits erforschten Pralinen, in den "Lindt & Sprüngli-Schokoladenfabriken". Auch hier darf keine Öffentlichkeit hinein. Die Hygiene-Vorschriften sind streng, und die Tafeln und Pralinen, die hier in Tonnenmengen die heiligen Hallen verlassen, unterliegen harten Qualitätskontrollen. Vor der Welt der Schokolade kommt zunächst der sterile Hygiene-Check: Hände penibel waschen. Uhren, Ringe müssen abgelegt werden. Mit den Schuhen schlüpfen wir in Plastiktreter, dann dürfen wir in die Hallen. Mannshohe Silo-Behälter und Förderbänder, auf denen die Schokoladenmassen hin- und hersausen. Mitarbeiter aus 70 Nationen arbeiten hier.

Die Geburtsstunde der Schokoladentafeln, erste Station: der "Mischer". Geller ist in seinem Element. "Hier kommen die Zutaten wie Kakaomasse, Kristallzucker und Milchpulver hinein", erklärt er. Wenn die Stoffe genügend gemischt sind, kommen sie zur "Walzstation". Hier wird die Masse nach und nach in Walzen immer weiter platt gemacht, bis sie hauchdünn sind, millimeterfein. Dann kommt alles in die "Conche", in ein Gerät, ein Verfahren, das der Schokolade und letztlich Lindt & Sprüngli zu Weltruhm verhalf. Es ist ein spezieller Veredelungsprozess, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und die Schokolade gleichsam revolutionierte.

Das Conchierverfahren in Kurzform: Man gibt Kakaomasse hinzu, ein bestimmtes Mischverhältnis verschiedener Zutaten. Während gleichzeitig die Masse erhitzt und innerlich gerieben wird, legt sich ein zarter Film um die winzig kleinen Zucker- und Kakaoteilchen. Beim Reibungsprozess werden Luftmassen erzeugt, sodass sich Aromastoffe entfalten können. Umgekehrt entweichen bittere und säuerliche Geschmacksstoffe, die der Gärungsprozess hinterlassen hat. "Nach zwei Stunden bei 65 Grad Hitze ist die helle Schokolade in diesem Verfahren fertig, veredelt", erläutert Geller, während er uns an den Behälter heranführt, in dem es brodelt. Die dunkle "Schoggi", wie die Schweizer sagen, braucht indes zwischen zwölf und 20 Stunden, bei 75 Grad.

So werden auch die Weihnachtsmänner geboren, geformt, allerdings wie auch die Osterhasen und alle Hohlkörper, in Aachen. Die conchierte flüssige Schokoladenmasse wird in eine hohle Hälfte der Weihnachtsmannform gefüllt. Eine zweite Hälfte wird darübergelegt und fest mit der ersten Hälfte verschlossen. Beide Hälften werden nun so lange gedreht, bis sich die flüssige Schokolade darin verteilt und sich entlang der Wände eine gleichmäßige Schokoladenschicht gebildet hat. Dann kühlt die Schokolade langsam ab. "Weil sich die Masse bei diesem Abkühlen leicht zusammenzieht, lässt sich der entstandene Hohlkörper des Weihnachtsmannes jetzt ganz leicht aus der Form lösen", weiß Geller. Das rote Kleid angezogen, das Glöckchen umgehängt, fertig ist das Exemplar. So ähnlich geht es den Osterhasen.

Mal schauen, was die conchierte Schokolade in Zürich macht. Ein paar Hallen weiter läuft sie gerade übers Fließband, nun schon in Tafelform. Hunderte davon. Geller nimmt eine in die Hand. Bricht ein Stück ab. "Hören Sie, wie das knackt? So soll das sein", schwärmt er. Er geht mit seiner Nase dicht heran. Tastet sie liebevoll ab, wie ein Internist einen Körper abtastet, ob alles in Ordnung ist. "Dieser Schmelz, wunderbar", sagt der Rentner. Wir gehen weiter, zu den Pralinen. Es wird gerade ein Pralinenkasten mit ihnen bestückt. Pralinen, wohin man blickt, Tausende, wir müssen uns zurückhalten. Per Computer werden aus Fächern jeweils andere Pralinen herausgegeben, der Computer weiß genau, an welche Stelle welche Praline in den Kasten hineinkommt. Ein Heer von Mitarbeitern in Schutzanzügen mit Häubchen auf den Köpfen steht bereit, schaut, ob alles in Ordnung ist. Beim geringsten Fehler greifen die Mitarbeiter ein. Dann wird alles automatisch verpackt.

Alles begann 1879. Der damals 24 Jahre alte Rodolphe Lindt, Sohn eines Apothekers und Confiseurmeisters, kaufte in aller Stille zwei brandgeschädigte Fabriken in Bern und ein paar alte Maschinen. Er wollte unbedingt Schokolade schaffen, eine, die irgendwie anders war. Die übliche Schokolade damals war eine sandig-brüchige, raue, etwas bittere Masse. Lindt tüftelte mit einem Längsreiber, um das Ganze etwas zu glätten. Dann sprießen die Legenden: Hatte er im Jahre 1879 vor einem Jagdausflug oder einem Liebesabenteuer einfach nur vergessen, seine Maschine auszuschalten? Jedenfalls soll er, als er in seine Fabrik zurückkam, nach drei Tagen und Nächten, eine Wanne voller neuer Schokoladen vorgefunden haben - das Conchierverfahren war geboren, die neue Schokolade von Lindt.

Schokoladenhersteller aus ganz Europa analysierten die Tafeln. Lindt verkaufte 1899 seine Fabrik an die Firma Chocolat Sprüngli AG, für damals eineinhalb Millionen Goldfranken, was heute rund 100 Millionen Schweizer Franken entsprechen würde. Die Sprünglis waren schon seit 1836 in Sachen Schokoladen tätig. Lindt & Sprüngli war geboren. Heute agiert der Schoko-Gigant auf vier Kontinenten.

Wir verabschieden uns aus den Fabriken, die Tour endet in dem Shop, wo sich die Touristen sammeln. Und die Promis. Udo Jürgens fuhr hier schon vor, deckte sich mit Schokolade ein. Boris Becker hat ein paar Häuser weiter sein Domizil, und Rock-Legende Tina Turner hat ihr Anwesen gegenüber am See. Gerade ist ein Jaguar auf dem Parkplatz am Shop vorgefahren. Eine indische Familie, Eltern mit ihren vier Kindern gehen schnurstracks in den Laden. Schokolade türmt sich in Regalen. Nach einer halben Stunden kommt die Familie wieder heraus, schwer bepackt. Sie verstauen Pakete und Tüten im Kofferraum. Souvenirs aus dem Land der Berge und der Schokolade. Auch Schoggi-Guide Geller packt seine Sachen. Warum er so schlank ist nach all den Schokoladen-Jahren? Er lacht, "viel Sport machen", rät er. "Ich wandere sehr gerne." Im Rucksack hat er dann neben Butterbroten natürlich auch Schokolade, gerne Vollmich-Nuss. Ehrensache, natürlich von Lindt & Sprüngli.