Abendblatt-Redakteur Joachim Mischke erzählt in seinem neuen Buch die spannendsten Kapitel aus Hamburgs Musikgeschichte. Wir veröffentlichen Auszüge in einer Serie. Zum Abschluss: Johannes Brahms, der die heimliche Hymne der Hansestadt schuf.

Würde man von der Bühne der Laeiszhalle die Frage "Lieben Sie Brahms?" in den Saal rufen, es käme garantiert ein einstimmiges hanseatisches "Jouh!" zurück.

Was bringt die Hamburger dazu, sich schon seit Jahrzehnten und ohne Abnutzungserscheinungen für diesen Komponisten zu begeistern? Die Geburtsurkunde allein kann es nicht sein, sonst wären die Konzerte auch bei Mendelssohn chronisch voll. Ist es das schlechte Gewissen, den berühmten Sohn der Stadt zu dessen Lebzeiten nicht immer so behandelt zu haben, wie er es verdient hätte?

Da wäre Brahms in bester Gesellschaft, denn auch andere Größen wurden von lokalen Kleingeistern immer wieder herabgewürdigt. Die Antwort ist (abgesehen von der Gewöhnung durch ständiges Bebrahmstwerden in allen Abo-Reihen) wohl nicht zuletzt in Brahms' typischem Tonfall zu finden, im knarzigen, sturmwolkenverhangenen Zartbitter, das oft in Dur steht, obwohl es insgeheim Moll meint; in der melancholischen, bodenständigen Sehnsucht, die seine Musik so ergreifend macht.

Dass Brahms' Karriere begann, als er die Stadtmauern hinter sich ließ? Schwamm drüber. Dass populäre Hauptwerke nicht in Hamburg zu Papier gebracht wurden? Kann passieren. Niemand ist perfekt. Unter dem Strich bleibt: einmal Hamburger, immer Hamburger. 30 seiner 64 Lebensjahre verbrachte Brahms, wenn auch mit längeren Unterbrechungen, an seinem Erstwohnsitz Hamburg. Der blonde, dickköpfige Hans aus dem mittlerweile verschwundenen Gängeviertel ist und bleibt einer von uns, da können die Wiener ihn noch so oft für sich reklamieren.

Genau deswegen ist die heimliche Hymne der republikanischen Hansestadt - auch wenn viele Hans Albers' "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" nominieren würden - das geradezu royale Thema aus dem Finale von Brahms' Erster, das täglich als Erkennungsmelodie des NDR-"Hamburg Journal" im Fernsehen zu hören ist. Wann immer die einleitende Horn-Fanfare in einem Live-Konzert erklingt, kurz bevor dieses Thema erscheint, spürt man förmlich den kollektiv unterdrückten Wunsch des Publikums, andächtig mitzusummen, wenn man schon nicht aufstehen und große Wimpel mit Hammonias Stadtwappen schwenken kann. Was so tief geht, muss lokalpatriotisch verklärte Liebe sein. Gegenseitig war sie nicht immer.

Als Hamburger Jung wurde Johannes Brahms am 7. Mai 1833 geboren, in einfachen Verhältnissen, als Sohn des Johann Jacob Brahms aus Heide. Am 26. Mai wurde er im Michel getauft. Vater Brahms, ein freundlicher, wenn auch eher schlicht gestrickter Musikhandwerker, spielte Kontrabass und Horn in diversen Kapellen, war Hornist im Bürgermilitär, später Mitglied im Stadttheater-Orchester und Kontrabassist im Philharmonischen Orchester. Schon die Geburtsadresse, Specksgang 24, Schlüters Hof (das Haus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört), ist ein erster Baustein für den Mythos vom Underdog Brahms, denn dort war er nur die ersten sechs Monate seines Lebens zu Hause. Familie Brahms zog von 1830 bis 1864 achtmal um, und die Wohnungen wurden jedes Mal größer und teurer.

Mit neun Jahren kam Johannes an den nicht unidyllischen Dammtorwall, wo er bis zu seinem 17. Lebensjahr blieb. Er ging auf eine teure Privatschule und spielte auf dem familieneigenen Klavier, beides keineswegs Selbstverständlichkeiten. Doch der Kleine sollte es ja einmal besser haben.

Weiter kompliziert wird eine gerechte Beurteilung durch die löchrige, von frühen Biografen hier und da mit einem Heiligenschein versehene Faktenlage. "Von der Jugend wissen wir wenig, und im Alter war sein Leben ausgesprochen einförmig", seufzt sein Biograf Matthias Kornemann angesichts der dick aufgetragenen Verklärungspatina. In John Fords Western-Klassiker "The Man Who Shot Liberty Valance" fällt der große Satz: "Wenn die Legende Wahrheit wird, dann druckt die Legende!" Das Motto hätte von Brahms stammen können, der sich geschickt inszenierte, besonders gern durch sprechende Auslassungen, Ausschmückungen oder Erinnerungslücken.

Die Kindheit ist weitgehend im Nebel des Vergessens verschwunden, abgesehen von einigen Anekdoten, die insbesondere das Klischee des zu Nachtauftritten genötigten kindlichen Genies begründeten. Zu später Stunde sei der Kleine in zwielichtige Kaschemmen beordert worden, um auf Geheiß seines Vaters, des "Bierfiedlers vom Dammtor", für "Twee Daler un duhn" bei moralisch zweifelhaften Feierlichkeiten für leicht bekleidete Damen und deren lüsterne Kundschaft in die Tasten zu hauen. Von wegen. Die vermeintlich halbseidene Sause war eine honorige Privatfeier im Hause eines Kaufmanns am Großen Burstah, dazu kamen ganz und gar jugendfreie Auftritte in gutbürgerlichen Bergedorfer Gartenlokalen. Hier scheint Brahms' Wunsch nach rührseliger Überhöhung und Betonung der eigenen Lebensleistung als romantischer Künstlertypus zumindest Miturheber der Legende gewesen zu sein. 1843, im Alter von zehn Jahren, kam Johannes zu Eduard Marxen, der damals in Hamburg als allererste Wahl für Klavierschüler galt und auch Kompositionsunterricht gab. Die ersten Stücke mit Opuszahlen entstanden, ehrgeizige Klaviersonaten, ein episches Scherzo.

Nun war die Zeit endlich reif für den nächsten Schritt. Der führte ihn im April 1853 erstmals in die Ferne, auf eine Konzertreise mit dem Geiger Eduard Remenyi. Brahms wollte Erfahrungen sammeln und die eigene Belastbarkeit ausreizen. Zu den ersten Tour-Stationen zählten Winsen, Lüneburg und Celle. Nicht gerade erste Adressen, aber wählerisch durfte man noch nicht sein. Nachdem Brahms in Hannover jedoch dem berühmten Geiger Joseph Joachim vorgespielt hatte, notierte dieser beeindruckt, Brahms sei ein "ganz ausnahmsweises Kompositionstalent und eine Natur, wie sie nur in der verborgensten Zurückgezogenheit sich in vollster Reine entwickeln konnte".

Joachim kündigte Brahms auch bei Robert und Clara Schumann, geborene Wieck, in Düsseldorf an. Am 30. September 1853 kommt es dort zu jener Begegnung, die Brahms' Leben auf den Kopf stellen und in die dramatischen "neuen Bahnen" lenken wird, von denen Schumann in seiner berühmt gewordenen Aufsatz-Hymne schreibt. Robert jubilierte: "Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in den schwierigen Satzungen der Kunst . . . Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener." Brahms, zur messianischen Lichtgestalt erhöht, wusste kaum, wie ihm da geschah, das Lob war auch Belastung für ihn. Die Schreibhemmung manifestierte sich im jahrelangen Ringen mit der ersten Sinfonie.

Doch der ersehnte Karriereaufschwung hatte begonnen. 1859 präsentierte Brahms sein d-Moll-Klavierkonzert, das jedoch nach der passabel aufgenommenen Uraufführung in Hannover im reservierten Leipzig krachend durchfiel. Brahms war wieder zurück bei Muttern in Hamburg, leckte seine Wunden und versuchte einen neuen Anlauf. 1861 nahm er sich eine Wohnung vor den Toren der Stadt, in Hamm, Schwarze Straße 5. Dort entstanden unter anderem die Händel-Variationen, die beiden Klavierquartette op. 25 und op. 26 sowie die Schumann-Variationen.

Die vermeintliche Ruhe erwies sich als trügerisch, denn Brahms liebäugelte mit einem hochoffiziellen Posten, der Ansehen und sicheres Einkommen versprach. Über mehr als drei Jahrzehnte hatte der Dirigent Friedrich Wilhelm Grund als Leiter der Philharmonischen Gesellschaft und der Sing-Akademie das Hamburger Musikleben geprägt. Bei der Suche nach einer Neuregelung kam der vermögende Hamburger Musikliebhaber Theodor Ave-Lallemant ins Spiel, der an Brahms schon früh einen Narren gefressen hatte. Deshalb kam Ave-Lallemant auf die Idee einer Ämtertrennung zugunsten von Brahms; quasi im Alleingang, ohne Rücksprache mit den zuständigen Gremien, wollte er ihn 1862 auf den neuen Posten eines Chordirektors der Sing-Akademie hieven. Brahms fand die Idee sympathisch, doch die Sache hatte mehrere Haken. Für den Chefposten hatte man einen Renommierteren als den unnahbaren Herrn Brahms aus Hamm im Sinn; die Finanzen ließen ohnehin keinen Spielraum für zwei Führungskräfte. Es kam, wie es kommen musste.

Brahms, der nie den Wunsch geäußert hatte, den Posten zu bekommen, zog den Kürzeren. Die Stadt Hamburg trifft diesmal keine Schuld. Ave-Lallemants Urteil: "Brahms' Persönlichkeit war mit die Ursache davon." Die Stelle wurde im März 1863 mit dem Sänger und Dirigenten Julius Stockhausen besetzt. Auch die Schützenhilfe von Joseph Joachim konnte nichts retten; wutentbrannt schrieb er an Ave-Lallemant: "Ich möchte dem Comite moralische Prügel (und körperliche dazu!) geben, daß es Dich mit Deinen Absichten im Stich gelassen hat. Die Kränkung Johannes' wird die Kunstgeschichte nicht vergessen."

Da allerdings irrte der Geiger. Die Absage blieb eine Fußnote, und ganz unverständlich ist die Sicht der Philharmonischen Gesellschaft nicht. Man wollte auf Nummer sicher gehen, keine Dirigenten-Diva, sondern eine verlässliche, publikums- und marktkompatible Größe, keinen unberechenbaren Sturkopf wie Brahms.

Wie so oft im Leben hatten solche Nachteile einen Vorteil: Brahms orientierte sich neu. Nicht freiwillig, aber erfolgreich. Spät, dafür mit großem Pomp, folgte eine offizielle Versöhnungsgeste. Im Mai 1889 wurde dem Sohn der Stadt nach Moltke und Bismarck als erstem Künstler überhaupt die Hamburger Ehrenbürgerwürde verliehen. Für den nach Wien verzogenen Brahms war sie "mein Heimatschein". Er habe "durch hervorragende Werke seiner Vaterstadt Ehre und Ruhm bereitet", so die Begründung für die Ehrenbürgerwürde. 1893 besuchte Brahms zum letzten Mal die Heimatstadt, nicht um Konzerte zu geben, sondern um den Nachlass der verstorbenen Schwester zu sichten.

Als die Nachricht, Brahms sei am 3. April 1897 in Wien gestorben, Hamburg erreichte, ordnete der Senat an, dass nicht nur die Stadt selbst, sondern auch alle Schiffe im Hafen halbmast zu flaggen hätten.


"Hamburg Musik!" von Joachim Mischke (399 S., 22 Euro) ist bei Hoffmann und Campe erschienen und erhältlich im Abendblatt-Center.

Das Buch wird am 17. März um 19.30 Uhr im Abendblatt-Center, Caffamacherreihe 1, präsentiert, u. a. mit Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und Claus Spahn ("Die Zeit"). Eintritt frei, Anmeldung Tel. 68 25 25.