Die griechischen Sagen haben Achill Moser immer schon fasziniert. Jetzt begab sich der Fotojournalist auf eine der berühmtesten Touren der Weltgeschichte: die Irrfahrt des Odysseus. Nach der aufregenden Fahrt im Mittelmeer glaubt er: So könnte es gewesen sein.

Nacht über dem Ionischen Meer. Sturmböen fauchen heran. Gischt treibt horizontal über die See. Windstärke sechs bis acht. Es geht rauf und runter. Höhenflug und Durchsacken. Mit jedem Wellenstoß wächst die Angst, dass die Balken meines selbstgebauten Floßes auseinanderbrechen. Ich muss mich am Mast festklammern, um nicht von Bord zu fallen. Auf was habe ich mich da bloß eingelassen?

Seit ich als Zwölfjähriger die griechischen Sagen gelesen hatte, träumte ich von Odysseus und seiner fantastischen Irrfahrt. Gleichwohl vergingen mehr als 25 Jahre, ehe ich aufbrach, um der vermeintlichen Route des legendären Griechen zu folgen - zu Wasser und zu Land.

Und da war ich nun: Inmitten einer Arena von Wellen driftete mein Floß immer weiter vom Kurs ab, hinaus in die Weite des Mittelmeers. Erst im Morgengrauen entdeckte ich voraus kirchturmhohe Felswände. Die westgriechische Insel Zakynthos. Doch anlanden konnte ich nicht. Zu gefährlich waren Brandungswogen und Blockbarrieren. Also musste ich mein Floß aufgeben, sprang ins Faltboot, das ich im Schlepptau mitführte, und kämpfte mit dem Doppelpaddel gegen die tosenden Wasserfluten, während mein Floß an der Steilküste zerschellte.

Doch aufgeben wollte ich nicht, als ich völlig erschöpft die Küste von Zakynthos erreichte. Die Inseln Ithaka und Kefalonia waren mein Ziel. Dorthin wollte ich - in die Heimat des Odysseus. Seit zehn Jahren war ich unterwegs. Jedes Jahr ein paar Wochen oder Monate. Mit Segelboot, Holzfloß, Faltboot, Loud (eine tunesische Dhau), zu Fuß oder auf einem Esel. Immer auf der Route des listenreichen Irrfahrers, die ich aus Homers Odyssee herausgelesen hatte. Eine regelrechte Detektivarbeit. So erfuhr ich, dass die Odyssee nicht nur Fabel oder Mythos ist, sondern auch Reiseführer: Geografische Schauplätze der sagenumwobenen Irrfahrt wurden konkret vorstellbar.

Unberechenbar sind die Launen der Natur

Meine Reiseroute war ein geografischer Traum: In Troja, im Nordwesten der Türkei, begann die abenteuerliche Spurensuche. Hier soll es gewesen sein, wo vor mehr als 3000 Jahren die Griechen unter dem Oberbefehl Agamemnons, des Königs von Mykene, mit einer riesigen Flotte angelandet waren, um die Entführung Helenas, der Frau von Agamemnons Bruder Menelaos, zu rächen.

Noch heute ist Troja mit den Namen Homer und Heinrich Schliemann eng verbunden. Der eine ein Dichter, der mit seinen Epen "Ilias" und "Odyssee" das erste Stück abendländischer Weltliteratur verfasste. Der andere ein Pastorensohn aus Mecklenburg, der so felsenfest an die Existenz Trojas glaubte, dass er sich aufmachte, die heilige Festung der Trojaner zu suchen, die er 1871 an dem Ruinenhügel von Hisarlik fand.

Wo Odysseus' sagenhafte Reise - nach dem Fall von Troja - begann, stach auch ich in See. Mein erstes Ziel war das griechische Festland - bei Kavala. Das vermeintliche Reich der Kikonen. Ein mit den Trojanern verbündetes Volk, das Odysseus bei der Stadt Ismaros niedermachte. Vom Meeresgott Poseidon daraufhin verflucht, irrte der griechische Held zehn Jahre auf allen Meeren umher, ehe er zu seiner Gattin Penelope heimkehrte.

Nicht erst seit jenen Tagen gilt das Mittelmeer als eines der faszinierendsten Gewässer der Welt. Wogende Weite und endloses Blau wechseln mit strahlender Sonne und sternenklaren Nächten. Doch es gibt auch Gefahren: Unberechenbar sind die Launen der Natur, die ich vor allem in der stürmischen Ägäis erlebte.

Hoch am Wind segelte ich durch die Inselwelt der Kykladen: Paros, mit seinen Windmühlen und dem leuchtenden Rot der Paradiesapfelblüten; Naxos, Heimat des Weingottes Dionysos und Lord Byrons Trauminsel; Ios, wo der holländische Baron van Krienen, Seeoffizier in russischen Diensten, um 1770 angeblich das "zweieinhalb Meter lange Skelett" Homers in einem steinernen Sarkophag entdeckt haben will, und Santorin: Griechenlands geheimnisvollste Vulkaninsel, wo einst Atlantis untergegangen sein soll.

In neun Tagen trieb mich der Wind dann nach Afrika - zum Land der "Lotosesser". Ein geheimnisvolles Volk, das seit dem Altertum auf der tunesischen Insel Djerba vermutet wird. "Tahiti des Mittelmeeres" nennen die Djerbi ihre Insel, wegen der zwei Millionen Palmen, 330 Sonnentagen und endloser Strände. Von diesem Paradies mochten sich Odysseus' Seeleute kaum trennen, denn "wer die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet hat, dachte nicht mehr an Heimkehr". Vermutlich handelte es sich hier um Haschisch. Schon in der Antike war diese Droge weit verbreitet.

Weiter ging es nach Süditalien: Am "Tor zur Hölle", wie der Feuer speiende Ätna von den Sizilianern genannt wird, kletterte ich in die Höhle des einäugigen Riesen Polyphem. Ich umschiffte die Liparischen Inseln, die als Reich des Aiolos (Gott des Windes) gelten und überquerte das Tyrrhenische Meer, um nordöstlich von Neapel das Kap Circe zu suchen, benannt nach der Tochter des Sonnengottes Helios, die der Sage nach Menschen in Tiere verwandelte.

Der Wind heulte wie die Singstimmen der Sirenen

Geisterstimmengleich heulte mir vor Capri der Wind entgegen, der mir wie die Singstimmen der Sirenen erschien, die die altgriechischen Seefahrer ins Verderben locken wollten. Über Korsika, wo die odysseische Flotte von Lästrygonen (Kannibalen) zerstört wurde, gelangte ich in die Straße von Messina. Hier geriet ich in widrige Böen und böse Strömungen, während sich Odysseus gegen den gefürchteten Charybdis-Strudel und das sechsköpige Meeresungeheuer Skylla zur Wehr setzte.

Auf der Insel Gozo bei Malta stieg ich schließlich in die Grotte der Kalypso hinab, wo Odysseus sieben Jahre mit der schönen Nymphe gelebt haben soll. Und auf Korfu fand ich das Reich der Phäaken, ehe mich im Ionischen Meer jener schwere Sturm überfiel, der mein Floß gegen die Felsküste von Zakynthos schleuderte.

Zwei Monate nach diesem Debakel baute ich auf Zakynthos - zusammen mit meinem neunzehnjährigen Sohn - ein zweites Floß. Sieben Tage harte Arbeit. Dann konnten wir starten: Herrlich war's, als wir mit geblähtem Rahsegel der Inselküste folgten. Wir passierten grandiose Kulissen, umschifften Sandbänke oder Felsblöcke. Rasch gewöhnten wir uns an den fremdartigen Lebensrhythmus, den ein offenes Floß von zwölf Quadratmetern mit sich bringt. Die Tage waren ausgefüllt mit Segelsetzen, Staken, Rudern, Navigieren, Essenmachen und Fotografieren. Abends lagen wir am Strand. Über uns die Milchstraße, zum Greifen nahe. Irgendwo schnauften Delfine.

Wo das Wissen aufhört, sind die alten Mythen allgegenwärtig

Am Skinari-Kap, der Nordspitze von Zakynthos, warteten wir einen heftigen Sturm ab. Tags darauf kamen wir zur Insel Kefalonia. Neue geologische Bohrungen und geophysikalische Untersuchungen haben zu der These geführt, dass die West-Halbinsel Paliki einst durch eine Meerenge von Kefalonia abgetrennt war. Damit wäre Paliki eine eigenständige Insel gewesen. Vielleicht Odysseus' Heimat? Möglich ist auch, dass die Inseln Kefalonia und Ithaka ehemals zusammengehörten - und als Königreich des Odysseus galten.

Anderntags segelten wir per Floß von Kefalonia zur Insel Ithaka. In der Polis-Bucht, wo Odysseus mit seiner Flotte gen Troja in See gestochen sein soll, landeten wir an. Wild wuchernde Vegetation und betörende Düfte von Thymian, Lorbeer und Myrte. Ein paradiesisches Stück Erde mit viel Vergangenheit: Hier wanderte ich zu Laertes' Landgut, wo der Vater des homerischen Helden einst ein Bauernleben führte; suchte auf dem Pelikatahügel die Reste der Odysseus-Stadt; stieg in die Nymphengrotte, in der Odysseus die Gastgeschenke der Phäaken versteckte - und kletterte auf den 381 Meter hohen Aetos-Berg, wo die Burg des Odysseus gestanden haben soll.

War es wirklich hier? Als mein Blick über die blaue Weite des Ionischen Meeres schweifte, erschienen mir alle Fragen und Antworten überflüssig. Denn wo das Wissen aufhört, ist der Glaube an die alten Mythen allgegenwärtig.

Odysseus live: An diesem Sonnabend (28. April) um 19 Uhr zeigt Achill Moser im Hamburger Völkerkundemuseum seine Dia-Show "Abenteuer im Mittelmeer" - auf den Spuren des Odysseus. Der Schauspieler Frank Wieczorek liest dazu Texte aus Homers "Odyssee". Karten (10 Euro) an allen Vorverkaufsstellen und unter Tel. 0381/2038714.