Ein Dachboden ist mehr als eine Deponie für Gerümpel: Da werden Erinnerungen wach und Entdeckungen gemacht. In einem Museum in der Speicherstadt können Erwachsene träumen, Kinder finden Omas Spielzeug, und viele Geschichten werden lebendig.

Die "Dachbodenbande" ist alles andere als ein modernes Museum: Glasvitrinen, Infotafeln und einen Museumsshop sucht man vergeblich. Wer hierher in die Speicherstadt kommt, geht auf Entdeckungsreise in die Geschichte: Manfred Bauditz hat Alltagsgegenstände aus zwei Jahrhunderten zusammengetragen. Fotografien und Spielsachen, abgetragene Kleidung aus der Nachkriegszeit, vergilbte Fotos vom ersten Schultag, Küchengeschirr, Märchenbücher und jede Menge Spielzeug lagern bei ihm wie auf einem alten Dachboden.

Vieles erinnert an Weggefährten aus der eigenen Kindheit: das heiß geliebte Schaukelpferd, die erste Barbiepuppe oder das abgewetzte Blechauto. Die meisten Besucher gehen auf eigene Faust durch die Ausstellung; auf Anfrage bietet Manfred Bauditz eine Führung an. Das ganz besondere Dachboden-Gefühl stellt sich abends bei einer Taschenlampen-Begehung ein: Wenn die Lichtkegel den Weg durch die Geschichte leuchten, entfaltet sich der magische Zauber dieser lebendigen Museumswelt.

JOURNAL: Herr Bauditz, Sie haben ein Herz für Dachböden. Warum sind die ein "kultureller Raum"?

MANFRED BAUDITZ: Der Dachboden ist über Jahrhunderte immer Lager- und Aufbewahrungsraum von allem möglichen Krempel gewesen, unter anderem von Spielzeug. Aber seit den 70er-Jahren erlebt dieser Raum einen Wandel: Viele Dachböden wurden zu Wohnungen ausgebaut, sie dienten also nicht mehr als Speicher von persönlichen Gegenständen. Damit einher ging, dass man nichts mehr aufbewahren musste, denn die Wirtschaft machte alles verfügbar. Früher hat man sich nicht so einfach von Gegenständen getrennt, sie konnten so Jahrzehnte auf dem Dachboden überdauern. Diese Kultur des Aufbewahrens ist mit der Zeit verloren gegangen - damit auch die Bedeutung des Dachbodens als kultureller Speicher.

JOURNAL: Was bedeutet das für die Gesellschaft?

BAUDITZ: Die Gegenstände sind Transporteure in eine Zeit, in der wir in Geborgenheit und Liebe waren. Mit dieser Zeit stehen wir unterbewusst in Verbindung. Wir befinden uns in einem gesellschaftlichen Umzug, und da stellt man sich wie bei einem persönlichen Umzug die Frage: Was nehmen wir mit, und was lassen wir zurück? Das ist meines Erachtens für jeden Menschen und für das gesamte soziale Gefüge elementar. Wenn Sie mal einen Sperrmüllhaufen sehen: Da liegen ganze Geschichten von Menschen. Das habe ich einfach nie verstanden, wie man seine Vergangenheit einfach so auf den Müll tragen kann.

JOURNAL: Seit wann beschäftigen Sie sich mit Dachbodenschätzen?

BAUDITZ: Ich bearbeite das Thema schon seit 17 Jahren. Mir ist aufgefallen, dass sich Menschen immer häufiger bedenkenlos von persönlichen Gegenständen wie Bildern und Spielzeug trennen. Ich betrachte Spielzeug als emotionalen Gegenstand, der sich in der Kindheit in unser Gedächtnis einprägt. Und wann immer dieser Gegenstand unseren Weg im späteren Leben kreuzt, werden bestimmte Erinnerungen geweckt, längst Vergessenes wird wieder lebendig, wir können uns sofort wieder in unsere Kindheit zurückversetzen, damit haben wir etwas, woran wir uns festhalten können. Wenn wir Gegenstände aus unserer Kindheit nicht mehr zurückholen können, dann wird unsere Verbindung dahin gekappt und wir haben keine Orientierungsmöglichkeiten mehr, vor allem in Zeiten der Not nicht. Das will ich zum Thema machen.

JOURNAL: Und woher stammt das alte Spielzeug, das Sie zusammengetragen haben?

BAUDITZ: Die Gegenstände im Spielzeugmuseum sind bis zu 200 Jahre alt. Zum Teil kommen sie vom Sperrmüll oder Flohmarkt, andere sind mir geschenkt worden.

JOURNAL: Ihr Museum ist ja kein Museum im klassischen Sinn, sondern eher eine künstlerische Installation.

BAUDITZ: Ja, ich betrachte es als mein Kunstwerk. Besucher bekommen in meiner Ausstellung auch keinerlei Informationen. Sie machen eine Tür auf und werden sich dann selbst überlassen. Es gibt keine Glasvitrinen, alle Objekte können angefasst werden. Denn nur so können die Besucher unmittelbaren Kontakt zu diesem Spielzeug aufbauen und damit verbundene Gefühle wiederentdecken. Gefühle, die sie glaubten schon vergessen zu haben.

JOURNAL: Was erleben Besucher in der Ausstellung?

BAUDITZ: Erwachsene können ihre Kindheit wiederentdecken. Kinder können entdecken, womit ihre Eltern und Großeltern gespielt haben: Puppenhäuser, Kaufmannsläden, Schaukelpferde und so weiter. Sie können auf diese Weise auch vergleichen zwischen ihrem heutigen Spielzeug und dem Spielzeug von früher. Der Dachboden ermöglicht es, in die Zeit vor unserer Wegwerfgesellschaft einzutauchen, und spiegelt die gesamte Bandbreite dieser Epoche wider.

Ich habe ein Besucherbuch ausgelegt. Es ist voll von kleinen Anekdoten, Gedanken und sogar Gedichten. Manche Besucher fangen an zu weinen oder werden sogar wütend - je nachdem, welche Erinnerungen die Gegenstände wecken. Ein Abtauchen in die Vergangenheit kann glücklich machen, aber auch sehr schmerzhaft sein.

JOURNAL: Welchen Wert haben Gegenstände, die vom Sperrmüll kommen?

BAUDITZ: Eine Grundfrage für mich ist: Wo liegt das Bespielte, das Beseelte? Bei einem "lebendigen" Spielzeug gucke ich drauf und fühle sofort etwas - das ist ein emotionaler Wert. Ein Gameboy hat nicht die Abgegriffenheit eines alten Teddybären beispielsweise. Tote Materialien wie Plastik spiegeln diese Emotionalität nicht wider. Ich behaupte, dass das Spielzeug der heutigen Kinder keine Chance mehr hat, 30 Jahre alt zu werden. Und der Ikea-Schrank hat keine Chance, eine Antiquität zu werden. Nicht weil er schlechter ist, sondern weil er keinen Raum mehr hat, an dem er überdauern kann.

JOURNAL: Ist im Zeitalter des elektronischen Spielzeugs kein Platz mehr für Kindheitserinnerungen?

BAUDITZ: Heute speichern wir nicht, um für längere Zeit aufzubewahren, sondern um schnell auf große Datenmengen zugreifen zu können, wie zum Beispiel digitale Fotos oder Computerspiele. Das ist der Unterschied zum Dachboden, der deshalb auch Speicher genannt wird. Der Dachboden beherbergte abgelegte Gegenstände, die zum Wegwerfen zu schade waren, denn man kannte noch ihren Wert.

Großvaters Uhr oder Mantel sind schöne Beispiele. Ich trage sie, sie sind mir etwas wert, weil ich sie von jemandem geschenkt bekommen habe, der mir etwas bedeutet. Heute wissen wir häufig nicht einmal mehr, wie eine Sache überhaupt hergestellt wird. Qualität wird nur noch über Marken definiert - wir glauben die Wahrheit eines anderen, wir kennen nicht mehr unsere eigene, persönliche Wahrheit. Die brauchen wir aber, um sozial handeln zu können.