Zielstrebig verfolgt Indien seinen Weg in die Spitzengruppe der Wirtschaftsnationen - während es dem Westen immer noch Rätsel aufgibt. Wie sehen sich die Inder selbst? Was regt sie auf, worüber diskutieren sie? Einblicke ins Gastland der Buchmesse

Beni hütet das Auto wie seinen Augapfel. Unser Reisewagen ist ein alter Ambassador, der erste Pkw-Typ von Hindustan Motors und seit 1948 der meistverbreitete. Zu Benis und unserem Schutz klebt eine kleine Plastikmadonna auf dem Armaturenbrett - Indiens Straßenverkehr ist ein Synonym für "Linksverkehr mit Lebensmüden". Beni gehört zu den 20 Prozent Christen im südindischen Kerala und raucht und trinkt nicht. Wenn er als Fahrer Ausländer durch das Land kutschiert, ist er zwar oft tagelang unterwegs und muss in kärglichen Unterkünften übernachten. Aber dafür spart er eine eigene Wohnung und kann von seinen 2000 Rupies im Monat (34 Euro) noch die Eltern unterstützen.

An den Westeuropäern bewundert er ihren Wohlstand. Schleierhaft ist ihm, warum Familie, Kinder und Religion ihnen offenbar wenig bedeuten; warum sie sich stattdessen immer um "die Armen" sorgen. Armut ist ein von Geburt an vorbestimmtes Schicksal, sagt Beni.

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Indien ist das Land der Superlative und der krassen Gegensätze. Es ist das Land mit den meisten Milliardären Asiens - mehr als in Japan -, aber auch mit rund 300 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Das Land, in dem fast jeder Dritte noch von der Landarbeit lebt und das zur gleichen Zeit schon die Softwareschmiede der Welt ist. Das Land, dessen geschlossener, gelenkter Binnenmarkt sich erst vor rund 15 Jahren dem Weltmarkt öffnete und das in den nächsten 15 Jahren auf Platz drei der weltgrößten Volkswirtschaften ziehen wird, hinter den USA und China.

Erst feudale Agrarwirtschaft, dann Industrialisierung und Aufklärung, dann Demokratie und zuletzt Wissensgesellschaft - diesen klassischen Entwicklungsweg überlässt Indien getrost den alten Nationen Europas. Und die Belieferung des Weltmarktes mit industriellen Billiggütern überlässt es den asiatischen Nachbarn. Indien ist verliebt in die Idee, seinen ganz eigenen Weg zu gehen und sich von keiner "Fremdkultur" überformen zu lassen.

Statt Hollywood-Filme zu importieren, hat Indien seine eigene Filmindustrie entwickelt, mit mehr als fünf Produktionen pro Woche die größte der Welt - während es die USA auf nur 80 Kinofilme pro Jahr bringen.

Als der amerikanische Musiksender MTV 1996 auch in Indien eingeführt wurde und indischen Pop ignorierte, fanden die Inder das Programm geradezu unhöflich. Heute hat MTV India einheimische Moderatoren und sendet zu 80 Prozent indische Musik.

Sogar neben dem TV-Format "Indien sucht den Superstar" ("Indian Idol") gibt es eine nationale Alternative: "Fame Gurukul" heißt der Talentwettbewerb, Schule des Ruhms.

In den Schlagzeilen ist Indien aber vor allem als IT-Dienstleister und "Callcenter der Welt". Was Firmen in den USA, Kanada und Europa durch Outsourcing einsparen, lassen sie billiger von indischen Servicefirmen machen: Kunden betreuen, die Buchhaltung erledigen, Computersysteme installieren, Abrechnungen prüfen, medizinische Unterlagen auswerten, Hotlines besetzen.

Denn der Westen kann weder mit Indiens niedrigen Personalkosten noch mit seinem nahezu unerschöpflichen Arbeitskräftereservoir konkurrieren. Ein Operator in einem Call Center verdient in den USA pro Stunde 12,47 US-Dollar, in Indien 1 Dollar. Ein amerikanischer Lohnbuchhalter verdient 15,17 Dollar, ein indischer 1,5 bis 2; ein Rechtsanwaltsgehilfe in den USA 17,86 Dollar, ein indischer 6 bis 8. Ein Bilanzbuchhalter in den USA 23,35 Dollar, in Indien höchstens 15, rechnet der indische "New Sunday Express" vor.

Von den 2,8 Millionen Bachelor-Abschlüssen, die 2003 weltweit vergeben wurden, entfielen 400 000 auf amerikanische, 830 000 auf europäische und 1,2 Millionen auf asiatische Universitäten, schreibt der US-Autor Thomas L. Friedman. Allein Indien entlässt jährlich 700 000 Hochschulabsolventen. Seine Elite-Hochschulen liegen heute im internationalen Ranking der besten Ingenieursuniversitäten gleich hinter dem US-Spitzentrio Berkeley, MIT und Stanford.

"Den Europäern, selbstverliebt hingegeben an ihre Spaß- und Eventkultur, ist offenbar noch gar nicht bewusst, was da auf sie zurast", schreibt der langjährige Indien-Korrespondent und "Spiegel"-Auslandschef Olaf Ihlau in seinem neuen Buch "Weltmacht Indien". Nicht China, sondern Indien sei "langfristig der eigentliche Herausforderer des Westens". Indien sei "das bessere China", urteilt die "Financial Times".

Denn anders als China ist Indien tatsächlich eine stabile Demokratie mitsamt einer ausgeprägten Diskussionskultur. Es gibt nichts, was indische Medien nicht durchkauen, hochloben und anklagen. Ein Beispiel ist der Streit um das Bildungssystem.

Indien lässt sich seine Elitehochschulen, die berühmten Indian Institutes of Management (IIMs) und die Indian Institutes of Technologies (IITs), viel kosten. Die Hälfte der Studiengebühren übernimmt jeweils der Staat. An einer IIM betrug die Jahresgebühr bis vor kurzem 3750 US-Dollar, an einer IIT 700 Dollar (zum Vergleich: in den USA 35 000 Dollar pro Jahr und mehr). 2004 senkte die Regierung die Studiengebühren um 80 Prozent mit der Begründung, auch Kinder ärmerer Familien sollten Zugangschancen haben.

IIM-Absolventen können nach dem Examen ein Jahresgehalt von 40 000 Dollar in Indien erwarten oder 100 000 Dollar in einem westlichen Land - daher wandern bis zu 75 Prozent der Absolventen ab. Indische Kritiker monieren deshalb die "Schieflage des Bildungssystems": Die Zuschüsse für Elite-Hochschulen würden indirekt nur den ausländischen Abwerbern zugute kommen, während sie gleichzeitig den vernachlässigten indischen Grundschulen fehlen.

Jede Familie - selbst die ärmsten Pflücker auf den Teeplantagen - unternimmt Kopfstände, um ihren Kindern die vorgeschriebene Schuluniform kaufen zu können. Aber nur die Hälfte aller Kinder erreicht Klasse fünf der Grundschule; die Abbrecherquote von 53 Prozent ist die höchste in ganz Asien. 34,6 Prozent der Bevölkerung, zwei Drittel davon Frauen, können nicht lesen und schreiben.

Mit einem 3,5 Milliarden Dollar teuren Programm, davon 500 Millionen als Kredit von der Weltbank, will Indien nun bis 2010 jedem Kind von 6 bis 14 Jahren eine Grundbildung verschaffen. Aber dafür, fordert die Weltbank, sollen die Klassen vergrößert, der Lernstoff "verschlankt" und an der Lehrerausbildung gespart werden. Das stößt in Indien auf Protest. Während Kinder aus wohlhabenden Familien private Grundschulen "mit klimatisierten Klassenräumen und Reitstunden" besuchen könnten, würden Kinder auf staatlichen Grundschulen häufig "in Zelten und von Hilfslehrern unterrichtet", schimpfen Bildungspolitiker in der "Asia Times online".

Auch Azim Premji, "Indiens Antwort auf Bill Gates" und Chef des IT-Giganten Wipro, befürchtet, dass Indien angesichts der "tiefen sozialen Gräben schon in der Grundschulerziehung" langfristig nicht die Arbeitskräfte heranziehen könne, die es für den globalen Markt braucht.

Seit der Unabhängigkeit hat jede indische Regierung versucht, das Armutsproblem mit sozialen Programmen zu bekämpfen. Und jede hat sich dabei am Kasten-Problem wund gerieben. Obwohl Indiens berühmteste Schriftsteller wie Arundhati Roy oder Rohinton Mistry und andere Intellektuelle sich immer wieder für die "Unberührbaren" einsetzen, werden die Dalits (siehe "Kastensystem", rechts) immer noch massiv diskriminiert.

Zwar wird "positive Diskriminierung" dagegengesetzt: Den Dalits sind bestimmte Quoten in Parlamenten, auf Wahllisten und in Schulen garantiert. In mehreren Bundesstaaten wurden Kastenlose schon Ministerpräsidenten, etwa im ostindischen Bihar. Ende August 2006 verkündete die Regierung, im staatlichen Gesundheitswesen, auf technischen und anderen Hochschulen mehr Plätze für Angehörige niederer Kasten zu reservieren. Prompt kam es landesweit zu Demonstrationen: Ärzte und Studenten höherer Kasten protestierten vehement gegen die Quoten.

In indischen TV-Soaps kommen Unberührbare überhaupt nicht vor. Die Soaps spielen in Apartments, die wie von Ikea eingerichtet sind - dem Traumausstatter des erstarkenden indischen Mittelstands. Schon gibt es in Indien rund 75 Millionen Haushalte, die über Jahreseinkommen zwischen umgerechnet 1000 und 10 000 Euro verfügen. Ihre Kaufkraft beflügelt Versicherungen, Schmuckindustrie, Möbel- und Technikkaufhäuser.

Gerade die mittelständischen "global Indians" gelten heute in Westeuropa als demokratisch, spirituell, tolerant und friedlich. Falsch, sagt dagegen Pavan K. Varma in seinem provozierenden Buch "Being Indian": Das Indienbild des Auslands und das Selbstbild der Inder stimmten beide nicht.

Varma liefert harten Tobak: Inder seien nach der Verfassung demokratisch, in Wahrheit jedoch besessen von Status und Hierarchien. Ihrer Psyche entspreche weder der Sozialismus noch Gandhis Bescheidenheit, sondern das Paktieren mit den Mächtigen zum eigenen Nutzen. Inder, vor allem Hindus, hätten wenig Mitgefühl mit den Bedürftigen. Sie seien diesseitig-materiell orientiert, Spiritualität sei für sie nur "ein Mittel, um göttliche Unterstützung für Einfluss und Zugewinn zu erhalten". Nicht zufällig gehörten zu den beliebtesten Gottheiten im hinduistischen Pantheon Ganesh, der geschäftliche Hindernisse beseitigt, und Lakshmi, die Göttin des Wohlstands.

Nur leider, sagt Varma, seien gerade diese eher unangenehmen Facetten der Grund dafür, dass die Inder so flexibel und zäh und global so erfolgreich sind.