Im Jahr 2005 wurden weltweit 14 000 Menschen als Geisel genommen, die meisten in Lateinamerika, viele in den GUS-Staaten, allein 3000 in Mexiko. Wie gehen Menschen, die entführt wurden - wie die Chrobogs oder Susanne Osthoff - mit dieser Erfahrung um? Der Psychiater und Psychologe Michael Hase (46) arbeitet ^häufig mit Entführungsopfern.

JOURNAL: Herr Hase, wie erleben Geiseln ihre Entführung?

HASE: Es hängt vom einzelnen und der Situation ab. Ob die Familie Chrobog im Jemen entführt wird oder Frau Osthoff alleine. Ein altes Ehepaar wurde in seinem Haus von Geiselnehmern voneinander getrennt, der Mann mußte mit ihnen Wertgegenstände suchen. Im Krieg war er dreimal mit einem Minensuchboot getroffen worden, das war kein Problem für ihn: Er wußte, warum er das tat, war vorbereitet, hatte Verantwortung für seine Männer und konnte damit umgehen. Die Geiselnahme dagegen überraschte ihn - er war hilflos ausgeliefert, ohne die Möglichkeit zur Gegenwehr.

JOURNAL: Kann man auf eine Entführung "vorbereitet" sein?

HASE: Als Sparkassengestellte vielleicht, weil eine Geiselnahme schon mal durchdacht wurde. Herr Chrobog hatte die berufliche Erfahrung und wußte um das Risiko, seine Frau als Ägypterin kannte den Kulturkreis. Wenn man gewappnet ist, hält man mehr aus. Ganz anders, wenn man - wie die Wallerts auf den Philippinen - aus einer Ferienanlage entführt wird, wo man sich sicher fühlt und nur ans Beste und Schönste denkt.

JOURNAL: Wie reagieren Geiseln?

HASE: Wer überrascht wird, ist erst mal im Schockzustand: emotional betäubt bis zur Paralysierung und zu willenlosem Geschehenlassen. Das Denken fällt aus, auch die Idee: Ich könnte was tun. Das ist ein Schutz der Seele, unsere innere Reaktion auf das Trauma.

JOURNAL: Was ist ein Trauma?

HASE: Die Erfahrung, daß ich etwas, was von außen auf mich einstürmt, mit eigenen Kräften nicht bewältigen oder abwehren kann. Das hält die Seele schwer aus. Im Gegensatz zur Normalität ist ein Trauma eine nicht steuerbare Erfahrung: Die seelischen Folgen, die wir danach wahrnehmen, sind eine normale Reaktion auf eine unnormale Erfahrung.

JOURNAL: Sieht man den Menschen ihr Trauma an?

HASE: Meistens gibt es ja keine Fotos. Nach dem Tsunami konnte man es auf Bildern sehen: die Leere der Augen, die unberührten Gesichter, als ob es denen gar nichts ausmachte. Alle waren emotional betäubt: Schmerzen, Gerüche, Geschmack, Gefühl sind dann nicht mehr da. Das normale Wahrnehmen mit Gefühlen und Handlungsmöglichkeiten fällt auseinander.

JOURNAL: Frau Osthoff wirkte nach ihrer Freilassung immer noch sehr angespannt.

HASE: Vor allem im ZDF-Interview schienen ihre Gedanken zu zerfasern.

JOURNAL: Wird die emotionale Lage von Geiseln verkannt?

HASE: Wer es nicht erlebt hat, kann sich nicht letztlich hineinversetzen, weil es außerhalb der üblichen existentiellen Erfahrung liegt. Jan Philipp Reemtsma, der lange allein entführt in einem Keller saß, hatte danach Sorge, daß ein Therapeut seinen Bericht gar nicht aushalten könnte.

JOURNAL: Ist es für Geiseln sicherer, nicht Widerstand zu leisten?

HASE: Dafür gibt's keine goldene Regel. Experten raten: im Zweifel ergib dich in die Situation. Aber in Willenlosigkeit liegt auch eine Gefahr. Sie ist keine Handlung, sondern Passivität und kann dazu führen, daß die Einwirkung der Täter auf die Geisel noch gezielter wird. Später führt sie oft zu Scham und Selbstvorwürfen. Ein Sohn der Chrobogs hat einen Geiselnehmer angeschrieen, so daß der verdattert das Fahrzeug verließ. So konnten sie per Handy telefonieren. Im Prinzip ist Angriff, Gegenwehr, Provokation aber ein Risiko. Täter können kopflos und gewalttätig reagieren.

JOURNAL: Was schildern Geiseln als ihre schlimmsten Momente?

HASE: Wenn sie noch nicht wissen, wohin es geht, ob Geld, Politik oder Vergewaltigung das Motiv ist; weil man dann mit dem Schlimmsten rechnen muß. Dauert die Entführung länger, gibt es immer wieder furchtbare Augenblicke: Wenn die Täter den Raum betreten, wenn sie drohen; wenn es bei Befreiungsaktionen gefährlich wird. Dann sieht man den Tod vor sich. In dieser größten Not bleibt manchmal nur der traumatische Wunsch nach Bindung erhalten. Dann liefern sich Geiseln denen aus, die fürs Überleben garantieren: den Tätern.

JOURNAL: Und nach so einem Schock?

HASE: Dann realisiert man, was geschah, Gefühle kommen wieder. Zeitvorstellungen sind undeutlich. Später folgen Erschöpfung, das Sich-Aufgeben, die Frage, ob es je wieder anders wird.

JOURNAL: Wer hat bessere Chancen, aus der Sache gut rauszukommen: jemand, der versucht, die Situation mit dem Verstand zu bewältigen, oder jemand, der die Dinge so hinnimmt?

HASE: Jemand mit Persönlichkeit, und jemand, der schon mal erfahren hat: Ich hab' Schlimmes erlebt und es aus eigener Kraft überwunden. Es gibt einfache Menschen, die sagen: Ich sehe, was geschieht, bin in einer Mission hier, das Risiko gehört dazu. Es hilft, einen Plan oder ein Konzept für die Zeit der Entführung zu entwickeln. Das stabilisiert.

JOURNAL: Welche Handlungsmöglichkeiten hat man denn? Frau Osthoff hat gebetet, sich an Zigaretten geklammert.

HASE: Wenn es klappt, zum Beispiel über Zigaretten in Kontakt mit den Entführern zu kommen, ist das gut, dann kann ich vielleicht Einfluß nehmen; Glaube läßt fest im Leben stehen, in der Phantasie die guten Beziehungen zu Menschen draußen mit Leben füllen, Fixpunkte schaffen, denken: Ich werde gerettet.

JOURNAL: Hat es Sinn, zu überlegen: Kann ich noch abhauen?

HASE: Natürlich. Eine der Wrestedter Geiseln ist geflohen. Existentielle Entscheidungen werden im Minutentakt gefordert.

JOURNAL: Kann man die Erfahrung überhaupt loswerden?

HASE: Eine Geiselhaft wird immer das Leben verändern, je massiver sie war, desto drastischer. Alle ehemaligen Geiseln werden wachsamer. Die Folgen können sich mildern, manchmal abklingen. Grundsätzlich gibt es Selbstheilung. Wir können seelische wie körperliche Schmerzen vergessen.

JOURNAL: Wie sollen sich Geiseln nach der Entführung verhalten? Hilft Reden?

HASE: Bedingt. Wir wissen: Wenn man zu früh und ungeschützt redet, kann das zu destabilisierenden Emotionen führen. Viele Geiseln wollen aber öffentlich sagen, wie schlimm es war. Das ist ein Weg aus der Opferrolle heraus. Doch die Situation nach der Freilassung ist oft ungünstig: Es geht der Geisel schlecht, Unterstützung fehlt, das Umfeld ist problematisch. Und die Arbeitgeber sagen: Klar soll er zum Therapeuten, aber was seine weitere Zukunft angeht, ist sie kein Wunschkonzert. Dabei kenne ich kaum einen traumatisierten Menschen, der versucht, aus seiner Entführung Kapital zu schlagen.