Ein “Übergangspapst“, wie anfangs von dem Deutschen behauptet wurde, ist Benedikt XVI. nicht. Eher das letzte Bollwerk, bevor ein Reformer kommt.

Von wegen "Übergangspapst"! Seit sieben Jahren sitzt Benedikt XVI. mittlerweile auf dem Stuhl Petri, und er erfreut sich immer noch sehr guter Gesundheit. Sagt sein persönlicher Sekretär, Monsignore Gänswein. Und der muss es wissen, denn schließlich ist er fast rund um die Uhr um Benedikt herum. Er hilft ihm morgens um 5.30 Uhr beim Anlegen der etwas komplizierten Dienstkleidung - Albe, Soutane, Mozzetta, Zingulum -, und abends um acht sitzt er noch mit ihm vorm Fernseher, wenn die Nachrichten gesendet werden. Von Georg Gänswein weiß man auch, dass es der Papst lieber sehen würde, wenn man um seinen Geburtstag gar kein Aufhebens machen würde - "Der Heilige Vater hat gesagt: 'Bitte, ich möchte zum 85. keine große Feier, der 16. April ist ein Arbeitstag ...'" -, aber das bleibt natürlich ein frommer Wunsch. So ist zum Beispiel eine 150-köpfige (!) Delegation aus Bayern im Anmarsch, angeführt von Ministerpräsident Horst Seehofer, der es sich nicht nehmen lassen will, Benedikt XVI. heute persönlich zu gratulieren.

Dieser erste deutsche Papst seit 1523, der sein Leben lang von schwächlicher Konstitution gewesen ist, erweist sich also als bemerkenswert robust. Und diejenigen, die in ihm schon aus rein theologischen, um nicht zu sagen: ideologischen Gründen einen Übergangspapst sehen wollten, müssen feststellen, dass Joseph Ratzinger im Amt Kräfte zugewachsen sind, die sie ihm 2005 nicht zugetraut haben. Tatsache ist, mit der Vollendung seines 85. Lebensjahres rückt Benedikt XVI. im Altersranking der Päpste auf einen der vordersten zehn Plätze vor. Und da wir gerade bei der Statistik sind: Hinsichtlich der Pontifikatsdauer liegt er zwar noch im Mittelfeld, aber da arbeitet die Zeit ja für ihn.

Die Spekulation, er könnte vorhaben zurückzutreten, hat sich mit der Kubareise im März übrigens auch erledigt. In Havanna hat Benedikt XVI. dem greisen Fidel Castro die Hand gereicht und erklärt: "Ich bin alt, aber ich kann meine Aufgabe trotzdem erfüllen." Das war gewissermaßen eine Kampfansage an die Kritiker, von denen es bekanntlich nicht wenige gibt. Vor allem an jene, die in ihm immer noch den ehemaligen "Panzerkardinal" oder "Großinquisitor" sehen. Die fühlten sich wieder bestätigt, als Benedikt am Gründonnerstag einmal mehr dekretierte, die Abschaffung des Zölibats komme nicht infrage; wer das verlange, sei von dem sehr persönlichen Motiv getrieben, "die Kirche in Übereinstimmung mit den eigenen Neigungen und Vorstellungen zu verändern". Nun weiß der Papst am besten, dass hierzulande immer weniger junge Männer Priester werden wollen, aber aus seiner Sicht ist der Zölibat eine Art Prüfstein. Nach dem Motto: Wenn wir diese Bedingung fallen lassen, überspielen wir nur eine Krise, die im Prinzip eine Glaubenskrise ist, weil die Gläubigen immer weniger werden und immer weniger Priester aus ihnen hervorwachsen. Conclusio: Der Glaube muss gestärkt werden. Von der protestantischen Praxis, den Pfarrern nicht nur ein Ehe- und Familienleben zu gestatten, sondern sogar noch Frauen zur Ordination zuzulassen, hält Benedikt XVI. nichts. Da gehe es schließlich nur um ein "Dienstamt aus der Gemeinde heraus", aber nicht um Priestertum im eigentlichen Sinn.

+++ Dossier: Benedikt XVI. – der deutsche Papst wird 85 +++

Kein Wunder, dass man in Sachen Ökumene in den zurückliegenden sieben Jahren keinen Zentimeter vorangekommen ist. Wenn davon die Rede ist, hat dieser Papst die orthodoxen Kirchen im Auge, aber nicht die protestantischen. Die, hieß es im Juli 2007 in einem vom Vatikan veröffentlichten Dokument, seien "nicht Kirchen im eigentlichen Sinn". Das in Deutschland als rüde und anmaßend empfundene Papier war einer der Gründe, warum der "Spiegel" im Vorfeld des Papstbesuchs im vergangenen September böse meinte: "Wo Benedikt draufsteht, ist Ratzinger drin."

Ist das so? Oder, anders gefragt: Wer ist dieser Joseph Ratzinger eigentlich, der am 19. April 2005 so schüchtern lächelnd auf den Balkon über dem Petersplatz trat und mit den Worten anhob: "Liebe Schwestern und Brüder! Nach einem großen Papst, Johannes Paul II., haben die Herren Kardinäle mich gewählt, einen einfachen, unwürdigen Arbeiter im Weinberg des Herrn ..." Und der die Menge, die ihn mit "Beee-ne-det-to!", "Beee-ne-det-to"-Rufen empfangen hatte, dann mit dem charmanten Nachsatz für sich einnahm, ihn tröste allein die Tatsache, dass der Herr "auch mit unzureichenden Instrumenten zu arbeiten und zu handeln" verstehe? Dieser Mann mit den sanften Gesten und der hohen Stimme, dem alle, die ihm persönlich begegnen, einen feinsinnigen Humor und große Zugewandtheit attestieren? Ein scharfer Denker, sagen die einen, ein Mensch von bezwingend schlichter Frömmigkeit, die anderen. Und sie fügen gern hinzu, dass Benedikt XVI. der Beweis dafür sei, dass das eine das andere nicht ausschließen müsse. Apropos Humor: Im Rahmen der ersten Generalaudienz, die Benedikt XVI. fünf Tage später abhielt, hat er gestanden, dass er den lieben Gott in der entscheidenden Phase des Konklaves angefleht habe, er möge ihm das nicht antun. Dass es dann doch anders gekommen sei, könne er sich nur so erklären: "Der Herr hat mir offenbar nicht zugehört."

+++ Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. +++

Die Entscheidung fiel nur 26 Stunden, nachdem die 115 Kardinäle in die Sixtinische Kapelle eingezogen waren. Als der chilenische Kardinal Jorge Medina Estévez am Abend des 19. April 2005 durch die schweren roten Samtvorhänge auf den Balkon über dem Petersplatz getreten sei und nach dem Ausruf "Habemus Papam!" den Namen "Josephum" genannt habe, erinnert sich Georg Ratzinger in seinem Buch "Mein Bruder, der Papst", sei er im Innersten erstarrt. "Ich wusste, jetzt wird's gefährlich." Und dann sei ja auch tatsächlich der Name Ratzinger gefallen. "Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich in diesem Augenblick ziemlich niedergeschlagen war. Ich sah weder den Pomp noch das Schöne daran, sondern nur die Herausforderung und Belastung, die dieses Amt, das jetzt alles von ihm abverlangte, für ihn bedeutete."

Die Ratzinger-Brüder stehen sich nahe. Sehr nahe. Weil der Joseph nach seiner Wahl die ganze Nacht vergeblich versucht hat, den Georg in Regensburg anzurufen, und der nicht dranging, weil er dachte, das wären die Journalisten, wurde irgendwann ein zweiter Anschluss gelegt. Wenn es auf diesem Apparat klingelt, und zwar "mehrmals die Woche", dann weiß der Georg, dass der Papst dran ist. Zu den irren Fragen, mit denen Georg Ratzinger zuweilen konfrontiert wird, gehört auch die, wie er seinen kleinen Bruder denn heute anspreche. Dass ein Papst irgendwo noch eine Privatperson ist, scheint dem einen oder anderen angesichts des in Rom entfalteten hierarchischen Prunks offenbar unvorstellbar. (Interessantere Fragen - "Was, wenn mir meine Wohnung nicht gefällt?", "Wie viel Urlaub habe ich?", "Darf ich Haustiere halten?" - beantwortet übrigens das 2006 erschienene, äußerst unterhaltsame Brevier "Papst werden leicht gemacht!" von Piers Marchant.) Aber mit dem Privatsein ist es natürlich nicht mehr weit her, seit Joseph Ratzinger zu Benedikt XVI. geworden ist.

Vorbei die Zeiten, in denen er zum Mittagessen einfach in die Cantina Tirolese in der Via Giovanni Vitelleschi hinübereilen konnte. Der Kardinal Joseph Ratzinger, der 1981 nach Rom ging, als ihn Johannes Paul II. zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannte, konnte das nach Belieben tun. Wenn Benedikt XVI. spazieren gehen will, bleibt ihm nur der Dachgarten über seiner Dienstwohnung. Als Papst ist Ratzinger in einem goldenen Käfig eingesperrt. Beneiden möchte man ihn um die dünne Luft, die er nun atmet, nicht.

Die Karriere ist natürlich atemberaubend. Aus dem bayerischen Bub, der als Vierjähriger verkündete: "Ich werd mal Kardinal!", nachdem er den Münchner Kardinal Faulhaber in vollem Ornat gesehen hatte, ist nicht nur eine Eminenz, sondern der Pontifex Maximus geworden. Nahtlos erscheint im Rückblick diese Lebensgeschichte, die an einem Karsamstag begann. Ratzinger, dessen Eltern auch noch Maria und Joseph hießen, ist in einem intakten katholischen Umfeld groß geworden. Dieser Katholizismus sei mit der bayerischen Lebenskultur tief verflochten gewesen, hat er in den Interviews mit Peter Seewald gesagt, aus denen 1996 der vielfach übersetzte Bestseller "Salz der Erde" hervorgegangen ist. Wenn Joseph Ratzinger von seinem Glauben spricht, den er ein "tragendes Lebenselement" nennt, dann hört sich das so an: "Wenn Gott plötzlich nicht da wäre, würde ich seelisch nicht richtig atmen können." Und um diese im besten Sinne naive Glaubensfähigkeit könnte man ihn allerdings beneiden.

Dass sich Benedikt XVI. nach wie vor als Wissenschaftler begreift - er war mit 31 Jahren der jüngste Professor Deutschlands, als er 1958 den Lehrstuhl für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Freising übernahm -, kann man daran erkennen, dass er sich als Buchautor sowohl Benedikt XVI. als auch Joseph Ratzinger nennt. Zurzeit arbeitet er am dritten Band seiner "Jesus von Nazareth"-Trilogie. Vor allem dienstags, dem Tag, den er sich zumindest vormittags dafür frei zu halten sucht. Zum Schreiben, das hat Joseph Ratzinger als Chef der Glaubenskongregation bedauernd gesagt, komme er zu wenig. Er habe, hat er damals gemeint, "nicht ganz das tun" können, was er sich vorgestellt habe - "nämlich im großen geistigen Gespräch unserer Zeit wesentlich mitzudenken und mitzureden, ein eigenes Opus zu entwickeln". Dass er mal der katholische Vorredner werden würde, hat sich der Kardinal Ratzinger offenbar nicht vorstellen können.

Das ist er jetzt seit sieben Jahren. Ein Übergangspapst ist er nicht. "Die Herren Kardinäle" haben ihn am 19. April 2005 gewählt, weil sie wussten, dass er in bestimmten Punkten hart bleiben würde. Vor allem in Sachen Geburtenregelung und Befreiungstheologie. Sie haben in Joseph Ratzinger ein Bollwerk gegen die gefürchteten Reformer gesehen. In diesem zerbrechlich wirkenden Mann, der so packend über Gott und die Welt schreiben kann und seine Prinzipien dabei aus einer seltsam fern wirkenden Zeit bezieht.