Seyne-les-Alpes/Berlin/Hamburg. Experte: Identifikation der Opfer kann Wochen dauern. Lufthansa widerspricht Ermittlern. Das Wichtigste zu Germanwings 4U 925 finden Sie hier.

In den französischen Alpen ist die Suche nach Opfern des Germanwings-Absturzes am Sonntagabend für die Nacht unterbrochen worden. Mit der Dämmerung zogen sich die Einsatzkräfte aus dem Zentrum in Seyne-les-Alpes zurück. In den Nächten sichern Spezialeinsatzkräfte die Absturzstelle in dem schwer zugänglichen Gebiet.

Am Montag soll die Bergungsaktion fortgesetzt werden. Weiter gesucht wird vor allem nach dem zweiten Flugschreiber der A320. Er soll weitere Erkenntnisse zum Geschehen vor dem Absturz liefern. Gleichzeitig wird ein Weg für Geländefahrzeuge ins Absturzgebiet geschaffen. Der Zugang könnte bereits Montagabend fertig sein und soll vor allem ermöglichen, schwereres Bergungsgerät in die Region zu bringen. Bislang ist die abgelegene Gegend nur per Hubschrauber oder Fußmarsch erreichbar.

Ermittler haben inzwischen die DNA von 78 Menschen gesichert. Diese solle zur Identifizierung der Toten mit DNA-Proben von Familienangehörigen abgeglichen werden, sagte der Staatsanwalt von Marseille, Die Identifizierung könnte nach Einschätzung des Rechtsmediziners Michael Tsokos von der Berliner Charité mehrere Wochen dauern. „In etwa drei Wochen werden bis zu 95 Prozent der Vermissten identifiziert und somit offiziell für tot erklärt sein“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Die Familien müssten sich vermutlich am geschlossenen Sarg von ihren Lieben verabschieden. Ein letzter Blick auf die Opfer sei ihnen nicht zuzumuten.

Sechs Tage nach dem Absturz des Flugzeugs rätseln Hinterbliebene und Öffentlichkeit weiter über die Hintergründe. Die Ermittler machten den Co-Piloten für die Katastrophe mit 150 Toten verantwortlich. Doch weder über mögliche Motive des 27-Jährigen noch über die Art seiner akuten Erkrankung wollten sich die Behörden bis zum Sonntag äußern. Die Lufthansa erklärte, sie wisse nichts über eine Depression oder eine erhebliche Sehschwäche oder -störung von Andreas L. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf hatte am Freitag lediglich erklärt, man habe in der Wohnung des Mannes „zerrissene, aktuelle und auch den Tattag umfassende Krankschreibungen“ gefunden.

Das Hamburger Abendblatt dokumentiert die bisherigen Erkenntnisse

Was an Bord geschah: Nach bisherigen Ermittlungen soll der Co-Pilot den Airbus A320 am Dienstag auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf mutwillig in einen Sinkflug versetzt haben, als der Kapitän das Cockpit kurz verließ. Die französische Staatsanwaltschaft schloss aus den Aufzeichnungen des rasch gefundenen Sprachrekorders, dass der 27-Jährige den Piloten aus dem Cockpit aussperrte. Minuten später zerschellte die Maschine an einem Bergmassiv nordöstlich von Marseille. Genauere Erkenntnisse über das Geschehen im Flugzeug vor dem Absturz erhoffen sich die Experten vor allem vom zweiten Flugschreiber, der immer noch am Absturzort gesucht wird. Der Pilot soll versucht haben, die Cockpittür mit einer Axt einzuschlagen.

Technischer Defekt? Französische Ermittler untersuchen auch die Möglichkeit eines technischen Defekts der Germanwings-Maschine. „Derzeit kann die Hypothese eines technischen Fehlers nicht ausgeschlossen werden“, sagte der Chef der in Düsseldorf eingesetzten französischen Ermittler, Jean-Pierre Michel, am Samstag dem Sender BFMTV. Die Ermittlungen gingen voran, es fehlten aber noch „technische Details“.

Politische Folgen: Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) will mit Fluggesellschaften und Aufsichtsbehörden über mögliche Konsequenzen aus dem Germanwings-Absturz in Frankreich beraten. „In der Luftfahrt gelten hohe Sicherheitsstandards, die aber auch immer wieder einer Weiterentwicklung bedürfen“, sagte Dobrindt der „Bild am Sonntag“. „Erst der Blick auf die Gesamtumstände des Unglücks wird Aufklärung über weitere notwendige Konsequenzen geben können. Wir stehen deswegen auch mit den Airlines und den beteiligten Organisationen in intensivem Kontakt.“

Der mutmaßliche Todespilot: Der Co-Pilot verheimlichte nach Erkenntnissen der Ermittler vor seinem Arbeitgeber Germanwings eine Erkrankung. Die Fahnder, die in der Wohnung des 27-Jährigen dessen Krankschreibungen fanden, hatten aber nach Hinweisen auf ein psychisches Leiden gesucht. Sie fanden weder einen Abschiedsbrief noch ein Bekennerschreiben. Für Berichte, wonach der Co-Pilot unter starken psychischen Problemen und auch Sehstörungen gelitten haben soll, war bis Sonntagmorgen keine Bestätigung der Behörden zu erhalten. Das Luftfahrtbundesamt überprüfte nach Angaben seines Sprechers die Personalakte. „Wir haben Einsicht in die Unterlagen genommen und die Erkenntnisse mündlich an die Staatsanwaltschaft gegeben“, sagte Holger Kasperski der Deutschen Presse-Agentur. „Mehr gibt es dazu aktuell nicht zu sagen.“ Sonst seien die Ermittlungen gefährdet. Auch einen sogenannten SIC-Eintrag in der Personalakte wollte Kasperski nicht bestätigen. Ein solcher Eintrag steht für besondere regelhafte medizinische Untersuchungen.

Kannte er den Absturzort? Die Eltern des Germanwings-Co-Piloten kamen zwischen 1996 und 2003 mit ihrem Segelflugclub aus Montabaur zum Fliegen in französischen Alpen, wie Francis Kefer vom Flugfeld in Sisteron dem französische Sender iTele sagte. Die Eltern seien mit ihrem Sohn gekommen, der damals Heranwachsender war. Sisteron liegt gut 40 Kilometer westlich der Absturzstelle. Er selbst habe die Familie dort nie getroffen, doch deren Aufenthalte seien im Club allgemein bekannt, sagte Kefer der dpa.

Gedenken: Am 17. April soll im Kölner Dom mit einem Gottesdienst und einem staatlichen Trauerakt der Opfer gedacht werden. Erwartet werden dazu neben Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auch Vertreter aus Frankreich, Spanien und anderen Ländern, aus denen die Opfer der Flugkatastrophe stammten. Im westfälischen Haltern, wo um 16 Schüler und zwei Lehrerinnen getrauert wird, soll es am Mittwoch (1. April) einen öffentlichen Gottesdienst geben. Auch am Sonnabend versammelten sich Menschen in Kirchen in Deutschland und Frankreich, um der Toten zu gedenken.

Entschädigung und Soforthilfe: Eine Lufthansa-Sprecherin bestätigte einen Bericht des „Tagesspiegel“, wonach der Konzern den Angehörigen der Opfer eine Soforthilfe zahlen will. „Lufthansa zahlt bis zu 50.000 Euro pro Passagier zur Deckung unmittelbarer Ausgaben“, zitierte die Zeitung einen Germanwings-Sprecher. In großen Tageszeitungen bekundeten die Lufthansa und ihre Tochter Germanwings den Hinterbliebenen der Absturzopfer ihre Anteilnahme mit ganzseitigen Anzeigen.

Experten-Kritik: Der Vorstandsvorsitzende des Flugzeugbauers Airbus, Tom Enders, übt scharfe Kritik an den Fernseh-Gesprächsrunden über den Absturz des Germanwings-Flugzeugs. „Was wir kritisch hinterfragen sollten, ist das Unwesen, das manche ‘Experten’ vor allem in TV-Talkshows treiben“, sagte Enders der „Bild am Sonntag“. „Teilweise wurde dort ohne Fakten spekuliert, fantasiert und gelogen“, sagte Enders. „Oft hanebüchener Unsinn. Das ist eine Verhöhnung der Opfer.“ Piloten verdienten auch weiter Vertrauen, sagte Enders. „Ein schwarzes Schaf macht noch keine Herde.“ Piloten seien in der Regel „sehr zuverlässig“ und „erstklassig ausgebildet“. (HA/dpa/AFP/epd/KNA)