Hamburg . Nicht nur Videos von Katzen und der nächste Pop-Hit verbreiten sich im Internet wie ein Lauffeuer – auch Gewalt hat immer Konjunktur.

„Es ist viral gegangen.“ Diese so direkte wie ungelenke Übertragung aus dem Englischen („to go viral“) beschreibt, wovon aktuell jeder auf Klicks bedachte Nutzer des Internets träumt, wenn er ein Video hochlädt: die massenhafte Verbreitung eines Inhalts quer durchs Netz. Diese gilt gerade in der Werbung gleichsam als heiliger Gral, es wird über den Königsweg gerätselt, ihn zu erreichen. Studien, Seminare und ganze Kongresse widmen sich dem Phänomen der Ansteckungskraft kurzer Bild- und Tonschnipsel. Kein Wunder, klassische nationale Kampagnen, weltweite erst recht, sind teuer. Ein millionenfach geklicktes Video hingegen kostet im Vergleich fast nichts. Private Nutzer wiederum sind auf der Suche nach dem digitalen Äquivalent zu Warhols sprichwörtlichen 15 Minuten Ruhm.

Meistens sind es Babys, Katzen und andere Niedlichkeiten, die in Tagen, wenn nicht sogar in Stunden von Null auf mehrere Millionen Aufrufe schießen. Musikvideos und tatsächlich auch der eine oder andere Werbespot erreichen den begehrten viralen Status ebenfalls von Zeit zu Zeit. Immer wieder sind es aber auch verstörende Bilder, die Gewalt zeigen – nicht nur Gewalt gegen Dinge, sondern Gewalt gegen Menschen.

Jüngstes erschreckendes Beispiel ist ein Video aus Los Angeles, das eine Auseinandersetzung zwischen Polizisten und einem Obdachlosen zeigt. Nach Polizeiangaben soll der Mann versucht haben, einem Beamten die Dienstwaffe zu entwenden, seine Kollegen erschießen den Mann. Ein Schaulustiger filmt das Geschehen am letzten Sonntag, lädt die Aufnahmen bei Facebook hoch. Sie verbreiten sich. Viral, eine Epidemie der Schau-Lust.

Vier Millionen Mal wird der Tod eines Menschen angeschaut, bevor das Video verschwindet. Sei es, weil der Nutzer es gelöscht hat, sei es, weil es von Facebook entfernt wurde. Weg ist es trotzdem nicht. Neben Nachrichtenportalen, Zeitungen und TV-Sendern haben verschiedene Privatleute das Video weiterverteilt. Auch die Enthauptungs-Videos der Terrorgruppe IS, der Mord an einem Polizeibeamten während des Anschlags auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion und andere, im Wortsinn menschenverachtende Videos geistern durch das Netz. Nicht etwa im Geheimen, in dunklen Kanälen, die nur findet, wer sich in legalen Grauzonen des Internets herumtreibt. Sondern zwischen Katzenvideos und Einkaufstipps, bei Facebook und Twitter, auf Blogs und privaten Webseiten.

Noch vor wenigen Jahren wäre diese Allverfügbarkeit von Gewalttaten undenkbar gewesen – allerdings nicht, weil eine Verrohung der Gesellschaft stattgefunden hätte, die die Verbreitung derartiger Exzesse nun nicht mehr unterbindet, sondern nur aus technischen Gründen. Mehr als eine Milliarde Smartphones wurden allein im vergangenen Jahr weltweit verkauft, mit jedem einzelnen ist es möglich, alles zu dokumentieren, was einem widerfährt. Und soziale Netzwerke machen fast jeden zum potenziellen Multiplikator. Geteilt wird, was auf Interesse stößt und wer sein digitales von seinem realen Leben strikt getrennt hat, braucht auch keine Repressalien zu fürchten, wenn er etwas verbreitet, das allgemeinen ethischen Grundregeln zuwiderläuft. Die vorgebliche Anonymität des Internets, sie befördert auch das Aushebeln von sozialen Normen.

Gleichzeitig scheint die Funktion der Medien als Quelle für Informationen und deren Einordnung zu erodieren: Eine Studie von Infratest Dimap, die das Meinungsforschungsinstitut im Auftrag des Medienmagazins „Zapp“ Ende 2014 durchführte, ergab, dass weniger als ein Drittel der Befragten großes oder sehr großes Vertrauen in die Medien haben. Eine im vergangenen Herbst in den USA erhobene Umfrage des Gallup-Instituts kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Dort gaben 40 Prozent an, den Medien großes oder sehr großes Vertrauen zu schenken.

Verbindet man beide Entwicklungen, liegt der Schluss nahe, dass neben einer allgemeinen Faszination, die wissenschaftlich sowohl für fiktionalisierte wie auch reale Gewalt wiederholt nachgewiesen wurde, auch die Suche nach der Wahrheit eine Rolle spielt. Wer ohnehin glaubt, es bei Radio, Fernsehen und Zeitung mit der „Lügenpresse“ zu tun zu haben, wird ungefilterten, nicht eingeordneten oder hinterfragten Eindrücken vermutlich mehr Glauben schenken als jeder Berichterstattung. Das gilt umso mehr, je drastischer die Bilder sind: Die Unmittelbarkeit der Eindrücke, die zum Beispiel das Video aus Los Angeles transportiert, macht den Zuschauer zum Augenzeugen, erhebt ihn über den Status des bloßen Konsumenten von Nachrichten.

Doch können solche Bilder journalistische Berichterstattung über Missstände zwar anstoßen, nicht aber ersetzen. Ohne Kontext sind sie kaum mehr als ein Mittel zur Befriedigung von Voyeurismus. Der nächste Aufreger des Tages ist immer nur einen Klick entfernt. Kinderleicht, schlimmstenfalls.