Plötzlich konnte der 16-jährige Daniel nicht mehr laufen. Eine körperliche Ursache wurde nicht gefunden. Seine Familie baute schon das Haus rollstuhlgerecht um - bis eine Psychotherapie alles änderte. Wie die Seele auf den Körper wirkt

Daran, wie alles anfing. kann sich Daniel noch genau erinnern. Wie er von jetzt auf gleich nicht mehr laufen konnte. Es war der 14. September 2010. Der Realschüler aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Tornesch war auf einer Klassenfahrt in Berlin und mit seinen Mitschülern in einer Disco. "Als ich nach draußen kam, wurde mir schwarz vor Augen, und ich bin hingefallen. Danach konnte ich nicht mehr richtig laufen."

Ein Rettungswagen brachte den damals 16-Jährigen in die Berliner Universitätsklinik Charité. Dort wurde er gründlich untersucht: Kernspinaufnahmen vom Gehirn, Analysen von Blut und Hirnwasser. Doch eine klare Diagnose konnten die Ärzte nicht stellen. "Sie äußerten nur einen Verdacht auf das Guillain-Barré-Syndrom", erzählt Daniels Mutter Sabine Petzold. Dabei handelt es sich um eine entzündliche Erkrankung der Nerven, bei der es unter anderem zu Lähmungen kommt, die typischerweise in den Beinen beginnen. Allerdings waren bei Daniel die Symptome dieser Krankheit nicht eindeutig. Die Zeit der quälenden Ungewissheit sollte fast zwei Jahre dauern.

Der 16-Jährige hatte vor allem Probleme mit seinen Sprunggelenken, die immer wieder umknickten, sobald er sich hinstellte oder gehen wollte. Nach einer Woche in der Charité kehrte Daniel nach Hause zurück. Es folgten mehrere Aufenthalte im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) und in einer Reha-Klinik in der Nähe von Hamburg - doch Daniels Zustand verbesserte sich nicht. Er erhielt sogenannte Orthesen aus Metall: Schienen, die die Sprunggelenke stützten. Damit und mit Krücken konnte er sich zwar mühsam auf den Beinen fortbewegen, war aber meistens auf den Rollstuhl angewiesen.

Seine Familie begann, das Zuhause so umzugestalten, dass Daniel sich dort mit dem Rollstuhl bewegen konnte. Eine Rampe wurde ein-, die Dusche umgebaut. Und fast fünf Monate nach dem geheimnisvollen Zusammenbruch begann für Daniel wieder die Schule. Er ging aus der zehnten Klasse ein Jahr zurück, weil er so lange krank gewesen war. Wenn Daniel auf diese Zeit zurückblickt, denkt er "vor allem an das ungewohnte und komische Gefühl, weil ich auf fremde Hilfe angewiesen war. Und ich stand immer im Mittelpunkt. Alle fragten mich, und ich musste immer wieder die gleiche Geschichte erzählen. Das war nervig."

Die Idee, die die entscheidende Wende bringen sollte, kam im Jahr 2011 während eines Aufenthalts in der neurologischen Klinik im UKE. Die Ärzte dort regten an, den Jungen ihren Kollegen in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorzustellen. "Diese schlugen vor, Daniel in der psychosomatischen Tagesklinik im Altonaer Kinderkrankenhaus zu behandeln", erzählt Sabine Petzold. Die Therapie begann im Mai 2012.

Am Anfang einer solchen Behandlung steht immer eine ausführliche Diagnostik. Dabei machen sich die Ärzte nicht nur ein Bild von der Persönlichkeit des Patienten, sondern auch von seiner Familie. Ein zentraler Bestandteil der Behandlung ist eine Gesprächstherapie. "Da habe ich das erste Mal darüber gesprochen, wie es mir geht - insgesamt, nicht nur mit dem Rollstuhl. Das war sehr schwierig, darüber zu reden. Aber ich habe viel nachgedacht, und dann wurden mir auch viele Sachen klar", erzählt Daniel. "Es kamen Konflikte ans Tageslicht, der Leistungsdruck, unter dem Daniel stand, der Druck durch den bevorstehenden Schulabschluss und familiäre Belastungen. Und es wurde auch klar, dass Daniel viele Konflikte runterschluckt und mit sich selbst ausmacht", sagt seine behandelnde Ärztin Dr. Verena Halb. Das waren die Erkenntnisse, an denen die Mediziner ansetzen konnten.

Daniel bekam Zeit zum Durchatmen: In der Schule wiederholte er wegen der vielen Fehlstunden nochmals eine Klasse. "Insgesamt ging es mir immer besser. Ich hatte immer mehr Motivation, etwas für die Schule zu tun und für meinen Körper". Er trainierte seine Muskeln, die durch das lange Sitzen im Rollstuhl schwach geworden waren. Nach und nach lernte der Junge mithilfe von Physiotherapeuten des Kinderkrankenhauses, ohne Hilfsmittel zu laufen. "Es war schwierig, von den Sachen loszulassen, die mir geholfen haben", sagt Daniel. Aber er machte gute Fortschritte. Bis Weihnachten 2012 blieb er in der Tagesklinik. Jetzt geht er noch zweimal in der Woche zu einem Physiotherapeuten und zu einer ambulanten Psychotherapie.

Mit dieser erstaunlichen Heilung Daniels war auch das Geheimnis seiner Krankheit gelüftet: Er litt an psychogenen Bewegungsstörungen und Lähmungen, erklärt Prof. Michael Schulte-Markwort, Leitender Arzt der Abteilung Psychosomatik im Altonaer Kinderkrankenhaus und Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie im UKE.

Als psychogene Störungen - von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, noch Konversionsstörung genannt - bezeichnen Ärzte Erkrankungen, bei denen psychische Impulse in ein körperliches Symptom umgelenkt werden. Das können Bewegungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen wie Sehbehinderungen oder Blindheit, Sensibilitätsstörungen, Ohnmachtsanfälle oder eben auch Lähmungen sein. "Bei den Lähmungen fällt auf, dass die angegebenen Beschwerden nicht mit den Versorgungsgebieten der Nerven zusammenpassen. Die neurologischen Untersuchungsbefunde stimmen nicht mit den Lähmungen überein", erklärt Schulte-Markwort.

An einer psychogenen Störung leidet etwa ein Prozent aller Kinder; meistens tritt die Störung ab einem Alter von zehn Jahren auf. Mädchen sind genauso häufig betroffen wie Jungen. "Wesentlich häufiger sind aber vorübergehende Konversionssymptome, zum Beispiel wenn ein Kind morgens aufwacht und nichts hören oder nichts sehen oder ein Bein nicht bewegen kann. In solchen Fällen hilft schon ein einfühlsamer Umgang mit dem Kind, und die Symptome verschwinden von allein", sagt der Kinderpsychiater.

Handelt es sich aber um eine echte Konversionsstörung, braucht das Kind eine Therapie: "Nötig ist immer eine doppelte psychotherapeutische Strategie. Das eine ist das Üben mithilfe von Physiotherapeuten. Das allein reicht aber nicht aus. Es geht auch darum, den zugrunde liegenden Konflikt zu identifizieren und aufzulösen. Bei Daniel konnten zentrale psychische Konflikte aufgearbeitet werden, über die er sich vorher nicht im Klaren war", sagt Schulte-Markwort. Das sei Tiefenpsychologie im besten Sinne des Wortes: "In die Tiefe gehen, tiefe unbewusste Konflikte zutage fördern, bewusst machen und auflösen. Je mehr das gelungen ist, desto autonomer konnte Daniel werden und desto mehr wieder Besitz von seinem Körper ergreifen."

Trotzdem war es für den Jungen und seine Familie ein langer und ein schwieriger Weg, denn für Betroffene und ihre Angehörigen ist es nur schwer zu glauben, dass die Seele solche schwerwiegenden körperlichen Symptome auslösen kann. Daniel ist zuversichtlich, dass er wieder ganz gesund wird: "Meine Knöchel sind noch bandagiert. Ganz ohne Hilfsmittel geht es dann doch noch nicht. Aber fast."