Viele zweifelten an einem Schuldspruch in dem Indizienprozess gegen den Vater der ermordeten Arzu Ö. Das Urteil wirkt wie ein Signal.

Detmold. Fendi Ö. kam als freier Mann ohne Tasche, ohne Zahnbürste zur Urteilsverkündung ins Landgericht Detmold. Er verließ den Saal als Häftling. Vier Verhandlungstage hatte er in stoischer Gelassenheit alle Fragen, Vorwürfe und grausamen Detailschilderungen zum Mord an seiner Tochter Arzu ertragen. Unmittelbar nach dem Urteilsspruch brach er zusammen. Sechseinhalb Jahre Haft für Beihilfe zum Mord durch Unterlassen. Nicht viele hatten angesichts der Beweislage mit so einem klaren Urteil gerechnet.

Bestürzung und Wut bei den Dutzenden von Verwandten und Freunden des Angeklagten, die im Saal 165 die Urteilsverkündung verfolgt hatten. Auch Verteidiger Torsten Giesecke, der viel Zuversicht verbreitet hatte, zeigte sich sehr überrascht. Die Anklage habe nichts in der Hand, hatte er vorher betont. Es sei nicht bewiesen, dass der 53-Jährige von dem Tatplan wusste, dass er mit den Kindern gesprochen habe. Und wenn doch, dann kenne man den Inhalt der Gespräche nicht.

Das kümmerte Richter Michael Reineke wenig. Er habe keinen Zweifel, dass die aus der Ost-Türkei zugewanderte Familie nach kurdischen und jesidischen Traditionen funktioniere: „Natürlich hat der Vater in einer patriarchalen Familie das Sagen!“ Damit war seine Ehre in Gefahr, als sich die 18-jährige Tochter wie eine Deutsche verhielt, sich in einen jungen Mann verliebte. Der aber war weder Kurde noch Jeside. Jesiden dürfen keine Nicht-Jesiden heiraten.

Uralte Vorschriften wie „Jesiden heiraten nur Jesiden“ funktionierten in Deutschland eben nicht, sagte Reineke. „Irgendwann kommen die Schmetterlinge im Bauch.“ Wenn man den jungen Leuten nicht die Freiheit einräume, „macht man sich zum Handlanger der Gewalt“.

Damit gab es zwar ein Motiv, nämlich die Ehre. Doch die Beweislage blieb auch im Prozess dünn. Der Wendepunkt kam am zweiten Verhandlungstag: Richter Reineke gab den rechtlichen Hinweis, dass Fendi Ö. nicht nur wegen Anstiftung zum Mord verurteilt werden könnte, sondern auch wegen Beihilfe durch Unterlassen. Dann fragte er den Angeklagten: Was der denn getan habe, um seine Kinder von dem Mord abzuhalten? Die Antwort: Schweigen.

Man wisse zwar nicht, was in den Telefongesprächen der Kinder mit dem Vater gesagt wurde. „Wir wissen aber, was nicht gesagt wurde, nämlich: Ihr dürft Arzu nichts antun!“, unterstrich der Richter. Sonst hätten die Kinder, die mit der entführten Arzu unterwegs waren, ihre Schwester mit Sicherheit nicht getötet. „Ein einfaches „Das dürft ihr nicht“ hätte das Leben von Arzu gerettet.“

In der Tatnacht zum 1. November 2011 war die Polizei schnell vor Ort. Da die Geschwister erkannt worden waren, kam die Polizei auch zu den Eltern, Fendi und Adle Ö. Ein Beamter habe Fendi ausdrücklich aufgefordert, seine Kinder zu stoppen. „Fendi wusste: Es war ein Mordkommando unterwegs“, sagte Reineke. Der Vater habe dennoch nichts unternommen, nur eine SMS an einen der Söhne ist bekannt: „Die Bullen sind vor der Tür.“ Warum der Vater nichts unternahm? „Weil es ihm recht war, was da geschah“, sagte Reineke.

Die Familie Ö., das Ehepaar und die zehn Kinder, galten als unauffällig und hervorragend integriert. Jetzt ist eine Tochter tot. Vier Söhne und eine Tochter sitzen langjährige Haftstrafen ab. Der Vater ist verurteilt. Und demnächst muss sich die Mutter wegen Körperverletzung an Arzu vor Gericht verantworten. Fendi habe genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte, gab der Richter zu bedenken. Die Familie ist zerstört, im Namen der Ehre.