65 Tote bei noch nicht einmal 270 erfolgreichen Besteigungen - das ist trauriger Rekord. Der Berg ist Monster und Faszinosum zugleich. Doch was genau macht diesen Reiz aus?

Nanga Parbat/Hamburg. Kein Berg lockt so wie der Nanga Parbat, dieser 8125-Meter-Riese im westlichen Teil des Himalaja. Keines Berges Ruf ist aber auch tödlicher. Karl Unterkircher ist jetzt das 65. Opfer des Ungeheuers aus Granit, Gneis und Eis geworden, das längst als der "Schicksalsberg der Deutschen" in die Geschichte des Hochalpinismus eingegangen ist.

Der Berg ist ein Faszinosum, ein Monster, das die Landschaft bis zum Indus beherrscht, ein Gigant, der urplötzlich auftaucht und sich - trotz Mount Everest und K 2 - als die größte sichtbare, frei stehende Massenerhebung der Erde erweist. Eine Parallele auf halber Erhebung ist in Europa der Ätna mit seinen 3350 Metern. Auch hier stockt schon manchem Betrachter beim ersten überfallartigen Anblick das Herz. Um viel mehr ein fast 5000 Meter höherer Berg, eigentlich schon ein Gebirge, das sich unvermutet, konisch aus der Indus-Ebene erhebt. Der Höhenunterschied zum 25 Kilometer entfernten Industal (und Karakorum Highway) beträgt 7000 Meter - die größte Falllinie, die unser Globus kennt, ebenso wie die vier Kilometer hohe Steilwand, die nach Süden gelegene Rupal-Flanke, die zum ersten Mal 1970 von den Brüdern Messner, Reinhold und Günther, bezwungen wurde. Für den jüngeren Bruder Günther nach der Besteigung ein Triumph mit tödlichem Ende.

Der Berg im pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs hatte immer schon etwas mit Deutschen zu tun. Die ersten Europäer, die seiner 1854 ansichtig wurden, waren die deutschen Gebrüder Schlagintweit. Das erste Opfer allerdings war nicht zufällig ein Mitglied der britischen Gesellschaft, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts - als die Herren Indiens - den gewaltigen Himalaja-Komplex bis in seine Gipfelregionen erobern wollte. Albert F. Mummery, der Messner des 19. Jahrhunderts, hatte bereits als Erster das Matterhorn über den Zmuttgrat bestiegen und dem schwierigen Riss am Grepon, dem Mummery-Riss, seinen Namen gegeben. Er bestieg den Nanga Parbat nachweislich bis in 6600 Meter Höhe, blieb von da ab aber verschollen. Das aber löste erst den Boom aus. Einen Berg, der nicht zu knacken ist, gibt es nicht.

In den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bemühte sich Deutschland unendlich um den Nanga Parbat. Hier galt es, auf friedliche, aber auch außerordentliche Weise Eindruck zu machen. Das gebeutelte Deutschland, Verlierer des 1. Weltkriegs, Opfer von Inflation und Weltwirtschaftskrise, politisch instabil, vernarrte sich geradezu in diesen Berg, der zudem, damals schon, als schwierigster erkannt worden war. Was umso wertvoller war, als der Mount Everest als englischer Berg galt, der K 2 als italienischer und der Annapurna als französischer mit entsprechenden Expeditionen, die freilich bisher samt und sonders gescheitert waren. Es konnte also nur der am westlichen Ausläufer des Himalaja gelegene Nanga Parbat sein - 1200 Kilometer entfernt vom Mount Everest -, der den Deutschen übrig blieb. Die Briten mit ihrem indischen Dominium hätten nie zugelassen, dass der höchste Berg der Welt von "Krauts" erobert worden wäre. Dass später ein Neuseeländer den Triumph der Erstbesteigung genoss, machte nichts. Ein weißer Neuseeländer galt allemal als Brite, zumal er in England von der Queen geadelt wurde.

Doch die mit enormem Interesse 1932 wahrgenommene und gefeierte deutsch-amerikanische Himalaja-Expedition mit Willy Merkl als dem nationalen Aushängeschild scheiterte. Daraufhin erkannten die im Jahr darauf an die Macht gekommenen Nationalsozialisten die propagandistischen Möglichkeiten, die eine Erstbesteigung bot: Sie prägten das bis heute gültige Wort vom "deutschen Schicksalsberg", zu dem die erste rein deutsche Expedition 1934 tatsächlich wurde. Es war ein groß angelegter Besteigungsversuch mit Merkl als Expeditionsleiter, der bei diesem Versuch ebenso ums Leben kam wie Alfred Drexel, der bereits beim Aufbau eines Basislagers einem Lungenödem erlag. Es starben beim Aufstieg Willo Welzenbach und Uli Wieland, zwei anerkannte Bergsteiger, und mehrere, namentlich nicht bekannte Sherpas. Ein Desaster, zumal die beiden Frontsteiger, Erwin Schneider und Peter Aschenbrenner, mit 7895 Metern 230 Meter unter dem Gipfel geblieben waren. Noch schlimmer die dritte Expedition 1937, die den Gipfel ebenfalls nicht erreichte, aber mit 16 Opfern, sieben deutschen Bergsteigern plus neun Sherpas, den höchsten Blutzoll entrichtete. 1938 - der nächste Versuch. Er erreichte nicht einmal die Höhe der Expedition vom Jahr zuvor. Dafür wurden die Leichen von Willy Merkl und des Sherpas Gay-Lay gefunden. Sherpas, bis dahin geringschätzig als Menschen eingestuft, die ihre Rücken vermieteten, standen plötzlich in einem anderen Licht da, als die Geschichte dieses einen Trägers rekonstruiert wurde. Danach harrte Gay-Lay, trotz der Möglichkeit weiterzuziehen, an der Seite des verunglückten Expeditionsleiters aus bis zum eigenen Tod. Es war Sir Edmund Hillary, der seinem Sherpa Tenzing Norgay nach seinem Sieg über den Mount Everest endlich die gebührende Ehre erwies, indem er ihn stets an seiner Seite behielt.

Die Tragödie um Gay-Lay wurde von der NS-Propaganda als heroische Opferbereitschaft bis in den Tod dargestellt, was in diesem Fall stimmte. Freiwilliger geht kaum jemand von dieser Bühne. 1939 dann der nächste dramatische Versuch, ein Land gab nicht auf. Aber auch ihm blieb der Erfolg versagt; der Gipfel wurde nicht erstürmt, aber Heinrich Harrers Ruhm durch eine großpolitische Wetterlage in internationale Höhen getrieben. Harrer, Erstbesteiger der Eigernordwand, wird bei der Rückreise nach Deutschland vom Ausbruch des 2. Weltkriegs in Indien überrascht und - interniert. Er verbringt die Zeit in Tibet am Hofe des Dalai Lama, wird dessen Lehrer, schreibt den weltberühmten Bestseller "Sieben Jahre in Tibet", der 1997 mit nicht geringerem Erfolg und Brad Pitt in der Hauptrolle von Hollywood verfilmt wird.

Endlich der Durchbruch. 1953 - sechs Wochen nach Hillarys Triumph am Mount Everest - gelingt dem Österreicher Hermann Buhl die Erstbesteigung des Nanga Parbat, ohne Sauerstoff, allein und, was lange Zeit Ärger bereitet, gegen strikte Anweisung. Weist der Nanga Parbat, der "Nackte Berg" aus dem Sanskrit: nagna-parvata, den 29-jährigen Himmelsstürmer als Opfer zurück - der Tschogolisa im Karakorum tut es vier Jahre später nicht. Buhl, inzwischen eine Legende, wird nur 33 Jahre alt.

Seither hat der Berg für Hochalpinisten nichts von seiner Faszination verloren.

Keiner der Großen, die dort nicht geklettert sind. Messner verliert auf dem Rückweg nach der scheinbar unüberwindbaren vier Kilometer hohen Rupal-Flanke seinen wahrscheinlich höhenkranken Bruder in einer Lawine; K. M. Herrligkoffer, ein Halbbruder des tödlich verunglückten Willy Merkl, zieht es ein Vierteljahrhundert immer wieder an den Nanga Parbat, immer wieder an neue Steilhänge, wie jetzt Karl Unterkircher mit seinen beiden Freunden Simon Kehrer und Walter Nones.

Hans Kammerlander, der zwölf der 14 Achttausender im Himalaja bestiegen hat, davon sieben gemeinsam mit seinem Freund Messner, bestätigte dem Abendblatt, dass der Nanga Parbat zu Recht als Diamir gilt, als König der Berge: "Es ist nicht nur die außergewöhnliche äußerliche Wucht - es ist die Vielzahl ungeheurer Flanken und Steilhänge." Die reize jeden.

Und die "Rakhiot-Eiswand", an der sein Freund Unterkircher nun sein Leben ließ, hält Kammerlander fast noch für schwieriger als die Rupal-Flanke mit ihrem extremen Höhenunterschied von vier Kilometern. Wobei man sich, so Kammerlander, diese Eiswand nicht als ununterscheidlose senkrechte Steilwand vorzustellen hat.

Sonst könnten sich dort ja weder Eis noch Schnee halten. Es gebe dort senkrechte Wände, aber auch Vorsprünge, Einbuchtungen, Querrinnen, Rutschen und Eisflanken. Wenn auch nicht dauernd senkrechtes Gefälle - Neigungen von 60 und 70 Grad habe es dort immer, sagt der Mann, der sowohl vom Gipfel des Nanga Parbat als auch vom Mount Everest mit Skiern heruntergewedelt ist: 1990, im Alter von 34 Jahren den ersten Berg; 1996 den zweiten und höchsten zugleich.

Er stutzt auf die Frage, ob Unterkircher in der Höhenluft eventuell den Sturz überlebt hätte, wäre er mit einem Sauerstoffgerät ausgerüstet gewesen. Hätte er dann nicht im Moment des Schreckens tiefer durchatmen können?

"Theoretisch ja", sagt der Experte, nachdenklich geworden, "praktisch wahrscheinlich nein. Wahrscheinlich wäre durch den Sturz die Maske abgerissen oder durch den nachgerutschten Schnee zusammengepresst worden, sodass sie ohne Wirkung gewesen wäre." Nanga Parbat eben - Schicksalsberg.