Schon vor mehr als 100 Jahren hatte der norddeutsche Ingenieur Hans Hinrich Brüning die gewaltigen Bauten entdeckt und fotografiert.

Hamburg. Im Sommer des Jahres 1875 stand er zum ersten Mal vor diesen merkwürdigen Bergen im Norden Perus. Ein hellhäutiger junger Mann, leicht als Europäer zu erkennen, der lange unter der sengenden Sonne ausharrte, bevor er sich langsam den Bergen näherte. Welches Geheimnis mochte sich damit verbinden? Waren es überhaupt Berge, wie seine peruanischen Begleiter behaupteten? Oder sollte es sich um das Werk von Menschen handeln, um großartige Pyramiden, die vor langer Zeit von einer geheimnisvollen, längst untergegangenen und vergessenen Kultur errichtet worden waren?

Hans Hinrich Brüning, ein Bauernsohn aus Hoffeld, einem Nest bei Bordesholm in Holstein, hatte im Juli 1875 in Hamburg ein Schiff bestiegen, das ihn nach Südamerika brachte, wo er nicht nur sein berufliches Auskommen als Techniker und Verwalter von Haciendas fand, sondern seine eigentliche Lebensaufgabe: die Erforschung des Landes und seiner Geschichte. 50 Jahre lang - von 1875 bis 1925 - hat der Norddeutsche, der sich bald Enrique Brüning nannte, im Departement Lambayeque gelebt und geforscht. Er sprach mit den Menschen, ließ sich Mythen erzählen, unternahm archäologische Grabungen und sammelte Altertümer. Aber er sammelte nicht aus Liebhaberei, sondern mit wissenschaftlichem Interesse.

In einem Brief an einen Bekannten in Lima schrieb er 1919: "Ich bin kein Sammler von Kuriositäten, sondern ich habe meine Sammlung zusammengestellt, um ein archäologisches Studium dieser Region durchzuführen, und darin besteht ihr Wert." Vorkolumbische Altertümer, vor allem Goldobjekte, waren damals schon populär und brachten im Antiquitätenhandel gutes Geld. Aber Brüning, der kein ausgebildeter Archäologe war und eine Ingenieursausbildung absolviert hatte, war in Wahrheit weder ein Amateur noch ein Raubgräber, sondern ein gewissenhafter Forscher, der ganz auf der Höhe seiner Zeit stand: Er dokumentierte seine Grabungen, machte sich Notizen, fertigte Skizzen an und fotografierte alles, was ihm wichtig und interessant erschien: Menschen bei der Arbeit, bei Feiern und Ritualen, Häuser, Städte und Dörfer, vor allem aber vorkolumbische Altertümer und - immer wieder - die merkwürdigen Berge, von denen er längst wusste, dass sie in Wahrheit die Pyramiden der Lambayeque-Kultur waren.

"Hans Hinrich Brüning war überhaupt der Erste, der systematisch angefangen hat, die Pyramiden in Lambayeque zu untersuchen", sagt Prof. Bernd Schmelz, der wissenschaftliche Leiter des Museums für Völkerkunde Hamburg. Der Ethnologe sitzt in der wunderbar nostalgischen Museumsbibliothek, die mit ihren dunklen Holzregalen und Karteikästen noch so erhalten ist, wie sie schon Brüning kannte, und erzählt von der erstaunlichen Lebensleistung des norddeutschen Bauernsohns, dem das Haus an der Rothenbaumchaussee einen wichtigen Teil seiner Alt-Amerika-Sammlung verdankt.

"Um 1920 hatte Brüning den größten Teil seiner Sammlung an die peruanische Regierung verkauft, die daraus ein Museum machte, das nach ihm benannt wurde und das er in den ersten Jahren auch selbst leitete. Das ,Museo Brüning', das noch heute in der Stadt Lambayeque besteht, verfügt über 12 000 Objekte, von denen etwa die Hälfte zur Originalsammlung des Gründers gehört", sagt Prof. Schmelz.

Einen Teil der Sammlung nahm Brüning aber mit, als er 1925 nach Hamburg zurückkehrte. In mehreren Etappen gelangte dieser Bestand, darunter mehrere Tausend fotografische Glasplatten sowie wissenschaftliche Aufzeichnungen und Tagebücher, in den Besitz des Hamburger Museums. Bernd Schmelz hat Brünings wissenschaftlichen Nachlass in jahrelanger Arbeit ausgewertet und dabei festgestellt, wie intensiv der begnadete Autodidakt die fast vergessene Lambayeque-Kultur erforscht hat - eine Kultur, die etwa 85 Prozent des gesamten peruanischen Goldes hervorgebracht hat.

Als sich der Hamburger Archäologe und Museumsmitarbeiter 2007 wieder auf Brünings Spuren im Norden Perus aufhielt, wurde er von Gisela Graichens Team der ZDF-Doku-Reihe "Schliemanns Erben" begleitet. Gemeinsam mit peruanischen Kollegen wollte Schmelz das versuchen, was Brüning vor 100 Jahren nicht mehr gelungen war: reale Spuren des sagenhaften Herrschers Naymlap zu finden.

Einheimische hatten Brüning den Mythos von Naymlap erzählt, der etwa 750 nach Christus mit einer großen Flotte und einen prunkvollen Hofstaat an der nördlichen Pazifikküste Perus gelandet sein soll. Er trug Federgewänder, wurde in einer Sänfte getragen, und Diener bestreuten - als Zeichen höchster Ehrerbietung - seinen Weg mit Muschelpulver. Naymlap zeugte mit seinen Konkubinen zahlreiche Söhne und begründete die Lambayeque-Kultur, die märchenhafte Goldschätze hervorbrachte und die voluminösesten Pyramiden der Welt. Welche der geheimnisvollen Pyramiden könnte Naymlaps Palast gewesen sein? Würde man dort auch sein Grab finden, das ganz sicher reich mit Gold ausgestattet sein müsste?

"Brüning ging es nicht in erster Linie um Goldschätze, und auch wir sind keine Goldsucher", sagt Prof. Schmelz, der gleichwohl spektakuläre Goldfunde durchaus für möglich hält. "Wenn wir Naymlaps Palast identifizieren und sein Grab finden, werden wir sicher ganz wesentliche Erkenntnisse über die Lambayeque-Kultur gewinnen", meint der Wissenschaftler, der glaubt, dass sein Vorgänger vor 100 Jahren schon auf der richtigen Spur war. In den Aufzeichnungen hat Schmelz gefunden, dass Brüning die Pyramide Huaca Chotuna für den Naymlap-Palast hielt.

Gemessen an den technischen Möglichkeiten der modernen Archäologie war Brünings Arbeitsweise recht bescheiden. "Schliemanns Erben" dokumentiert die systematische Erforschung von Huaca Chotuna, die in enger hamburgisch-peruanischer Kooperation erfolgt - unter gemeinsamer Leitung von Prof. Schmelz und dem peruanischen Wissenschaftler Carlos Wester, dem jetzigen Direktor des Museo Brüning. Sieben Archäologen und zahlreiche Grabungshelfer sind an dem Projekt beteiligt.

Vielleicht sind die Archäologen schon bald am Ziel, vielleicht wird Naymlap schon bald kein Mythos mehr sein. Hans Hinrich Brüning hat sein Leben lang daran geglaubt. Seine letzten Jahre hat er wieder dort verbracht, wo er aufgewachsen ist: in Hoffeld bei Bordesholm. Und er hat das getan, was sein Leben bestimmte: Er forschte - zuletzt über die Bräuche der bäuerlichen Gesellschaft in Bordesholm und Umgebung.