Heute wie damals werden hier Englands schwerste Kriminalfälle verhandelt. Und auch sonst hat sich nicht allzu viel verändert an diesem schicksalbeladenen Ort.

London. Es ist, als wehe der Geist von Agatha Christie und Billy Wilder noch durch den Raum. Unvermeidlich sind die Erinnerungen - an Legenden wie Marlene Dietrich oder Charles Laughton und den Film-Klassiker "Zeugin der Anklage". Dunkle Holzbalken, Decken in riesiger Höhe, die mächtigen Sessel der Richter, das schummrige Licht - noch heute vermag die Szenerie dem Betrachter Ehrfurcht einzuflößen.

Old Bailey. Londons Zentraler Strafgerichtshof im Herzen der Stadt, unweit von St. Paul's. Ein Ort, so schicksalbeladen wie nur wenige in der Justizgeschichte. Eine Stätte, an der sich über die Jahrhunderte Dramen abspielten, die häufig blutig begonnen hatten - und bisweilen auch so endeten.

Wie eben "Zeugin der Anklage", vor 50 Jahren von Regisseur Wilder nach Agatha Christies Bühnenvorlage auf die Leinwand gebracht. Zwar war dazu der Verhandlungssaal von Old Bailey in Hollywood nachgebaut worden, das allerdings so originalgetreu, dass sich beim Betreten des echten jenes Wechselbad von Gefühlen und Enthüllungen nachempfinden lässt.

Das Zentrum des Gerichts: eine mächtige Halle aus Granit und Portlandstein, in der sich eine pompöse Treppe erhebt. Links und rechts liegen die Prozesssäle. Anwälte und Staatsanwälte hasten vorbei, gekleidet mit Robe und Perücke, wie sie einst der verknöcherte, aber blitzgescheite "Sir Wilfrid Robarts" (Charles Laughton) trug. Ein Fels in der Brandung, stolz und mit Pokerface, stand er im vertäfelten Saal, die Lippen leicht nach unten gezogen, immer auf dem Sprung. Ihm gegenüber die kühl berechnende Ehefrau (Marlene Dietrich) seines wegen Mordes angeklagten Mandanten.

Old Bailey ist so gegenwärtig wie manches, was man seit jeher damit verband. "Schon der Name erfüllt die Seele mit Grauen", befand einst der Dichter Heinrich Heine. Seit dem 13. Jahrhundert existierte dort das berüchtigte Gefängnis Newgate. Die Häftlinge wurden in eisernen Ketten zu den Prozessen gebracht. Doch Seuchen und Fieber grassierten damals, so baute man 1539 ein separates Gerichtsgebäude an der Südseite - das erste Old Bailey, benannt nach der Straße, an der es lag. Die Verurteilten wurden dort bisweilen öffentlich hingerichtet.

1902 wurde Newgate abgerissen, doch der schmale Gang, durch den man seinerzeit die Delinquenten zum Galgen führte, existiert noch. "Unheimlich", sagt Pamela Sanderson, als sie uns die Stelle zeigt. Sie ist Chefassistentin von Peter Beaumont, "Recorder of London" oder auch "Chief judge", der oberste Richter im Old Bailey. 1907 entstand dort das heutige Old-Bailey-Gebäude.

Pamela Sanderson gewährt Blicke hinter die Kulissen und zeigt Orte, zu denen sonst die Öffentlichkeit keinen Zutritt hat. Sie führt uns in einen der 18 Säle. Holzvertäfelungen, grüner Samtteppich - alles alt, aber mit hightech ausgestattet. Flachbildschirme und Satellitenverbindung. "Hier können wir weltweit Zeugen direkt in den Gerichtssaal zuschalten", sagt sie und zeigt auch den Alarmknopf am Richtertisch. "Wenn man dort drückt, stürmen von überall Polizisten in den Saal." Denn nicht immer geht es gesittet zu im Old Bailey. "Neulich gab es auf der Zuschauertribüne eine Schlägerei zwischen Angehörigen zweier Familien. Drei Angeklagte waren verurteilt, einer war freigesprochen worden, und die Emotionen beim Publikum gingen hoch."

Ähnliches war auch im Jahr 1892 geschehen, als in Old Bailey der Schriftsteller Oscar Wilde schuldig gesprochen wurde, wegen einer homosexuellen Affäre mit Lord Alfred Douglas. Das Urteil: zwei Jahre Gefängnis bei Schwerstarbeit.

Oder als Derek Bentley, gerade mal 19 Jahre alt, 1953 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, für einen Mord an einem Polizisten, den er nicht begangen hat - eines der spektakulärsten Fehlurteile in der britischen Rechtsgeschichte. Der "ehrenwerte" Richter Rayner Goddard verhandelte damals den Fall. Nach 75 Minuten fällte die Jury das Urteil: Tod durch Strang. Später kam heraus: Ein Komplize Bentleys war der Mörder. 1998 sprach man Bentley frei - posthum freilich.

Besuch im "Listing Office". Dort werden die eingehenden Dramen von heute bearbeitet und den einzelnen Richtern zugewiesen: überwiegend Morde und Verbrechen mit terroristischem Hintergrund, rund 1200 im Jahr. Kleine Karteikärtchen, auf denen die Vorwürfe kurz skizziert sind, hängen an einem Schwarzen Brett. Rosa für Morddelikte, Weiß für Terrorverfahren. Nur ausnahmsweise werden andere Großverfahren - Betrug, Raub oder Vergewaltigung - im Old Bailey verhandelt. Sie können Tage, Monate oder länger dauern. "90 Prozent der Fälle sind Tötungsdelikte", sagt Pamela Sanderson.

15 ständige Richter arbeiten im Old Bailey, der gesamte Stab vom Court Service umfasst 80 Mitarbeiter: Stenotypisten, Boten, Saaldiener, Sekretärinnen. "Ein Prozess kostet im Durchschnitt mindestens 120 Pfund pro Minute", sagt Pamela Sanderson.

Hier würde heutzutage auch sein Name auf einer rosa Karteikarte stehen: Hawley Crippen, der "Gattinnenmörder", der 1910 vor Gericht stand. Auch der von John Christie. Er tötete sechs Frauen und hörte im Old Bailey sein Todesurteil. 1953 wurde er hingerichtet.

Gerade tagt Court No.1. Die Staatsanwältin spricht, und die zwölf Geschworenen lassen keinen Blick von ihr. Der Angeklagte, Mitte 50, sitzt hinten im Saal, erhöht in einer durch Glas abgeschirmten Box. Er schaut zu Boden, während die Anklägerin der Jury die Liste der Vorwürfe gegen den Mann unterbreitet: Seine zwei Stiefkinder, acht und neun Jahre alt, soll er übelst sexuell missbraucht haben. Im Bad, im Schlafzimmer soll der Angeklagte sich an den Kindern vergangen haben. "Die Opfer werden über Video im Prozess aussagen", sagt die Anklägerin. Und dann mahnt der Richter die Jury: "Sie müssen am Ende die Indizien sorgsam abwägen."

Draußen vor dem Gebäude hat am frühen Morgen die BBC mit einem Kamerateam Aufstellung genommen, ein Heer von Pressefotografen steht Spalier. Es läuft ein Prozess gegen einen mutmaßlichen Bombenleger aus Somalia. Verhandelt wird auch um den spektakulären Raubüberfall auf ein Gelddepot im Süden Englands, wo die Reserven für Geldautomaten gelagert wurden. Beute: 53 Millionen Pfund. Und schließlich tagt noch Court No. 16, wo sich Kieren Fallon verantworten muss - der weltberühmte irische Jockey soll bei etlichen Rennen betrogen haben.

Viel Arbeit für Pamela Sanderson und ihre Kollegen. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Zeugen einzuschwören und einen technisch reibungslosen Ablauf der Verhandlungen vorzubereiten. Während derselben sitzt sie meist an der Seite ihres Chef-Richters in einem der 18 Gerichtssäle.

Zeugen, Anwälte und Geschworene gelangen erst nach strengen Sicherheitskontrollen durch den Haupteingang. Für die Öffentlichkeit ist ein Großteil gesperrt, für Zuschauer führt ein separater Eingang zu den Galerien der Säle. Dies ist seit 1973 so, nachdem vor dem Gebäude eine Bombe der IRA explodiert war. Pamela Sanderson deutet auf eine Kerbe in einer Wand. "Hier schlugen Splitter der Bombe ein."

Morde und Terrorverfahren, das ist Sandersons Alltag. Allerdings nicht mehr lange. Ihre Pensionierung naht. "Die Fälle versuche ich zu vergessen, es gibt ja auch noch ein Privatleben", sagt sie. Nur die Dienst-Perücke vom Old Bailey, "die möchte ich mitnehmen", sagt sie - Erinnerungen an den Justiz-Glamour und an Legenden wie "Sir Wilfrid Robarts" , Charles Laughton oder Marlene Dietrich.