Er lebte in München, Kapstadt und New York. Doch erst in Rauge spürte er seine Wurzeln - bei jenen Menschen, deren Vorfahren die Untertanen seines Großvaters waren.

Hamburg. Er wartet. Geht unruhig in seinem Haus in der Nähe der Alster umher. Schaut noch einmal in die Küche, durchquert das Wohnzimmer, fragt: "Ist die Bowle auch kalt?" Es ist ein wichtiger Tag für ihn. Seine Heimat wird gleich bei ihm zu Gast sein. Menschen, die ihn an vergangene Zeiten erinnern, die ihm viel bedeuten und ihm eigentlich ferner nicht sein können. Eine Delegation von acht Leuten aus einem kleinen Ort in Estland. Rauge, so heißt das Dorf auf Deutsch und Rõuge auf Estnisch, hat 2300 Einwohner, grüne Wiesen und idyllische Seen. Wäre die Geschichte anders verlaufen, könnte all das heute ihm gehören, und die Menschen wären seine Untertanen.

Der Mann, der in Hamburg so ungeduldig wartet, heißt Alexander von Samson-Himmelstjerna und ist 61 Jahre alt. Er trägt einen hellen Trachten-Janker, ein Hemd und eine weite Hose, Lederschuhe. Es ist ein Sonnabendabend, und alles soll perfekt sein. Für diesen Abend, wenn zusammenkommt, was irgendwie zusammengehört und wiederum überhaupt nicht. "Ich bin so froh, dass mich Menschen aus Rauge hier besuchen", sagt er.

Von Samson-Himmelstjerna, das ist ein wohlklingender Name, baltischer Adel, der zurückgeht bis ins 16. Jahrhundert. Ein Name, den man auch in Rauge kennt. Denn Rauge gehörte mal seiner Familie. Eines von fünf Gütern in Estland, in der Nähe der Stadt Werro, auf Estnisch Võru. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft in Estland im Jahr 1854 besaß alles der sogenannte Patron, das Familienoberhaupt der von Samson-Himmelstjernas: das Land und die Menschen, die darauf lebten. Auch später, als die Bauern schon eigenes Land zum Beackern bekamen, mussten sie noch die Ländereien der Gutsbesitzer mit bestellen. Im Gegenzug finanzierte der Patron den Pastor und die Schule, als erster Bürger war er für die Bürger von Rauge verantwortlich. "Wenn Not im Dorf war, ging man zum Herrn Samson", sagt Alexander von Samson-Himmelstjerna, der diese Verantwortung noch heute fühlt.

Die Familie wurde ab der Bauernlandreform im Jahr 1904 stufenweise enteignet. Damals besaß sie noch rund 1300 Hektar, 1918 waren es nur noch 50. Doch sein Großvater Friedrich kaufte wieder Land dazu, bis auf 260 Hektar. 1939 mussten sie wie rund 13 700 Deutschstämmige Estland verlassen und wegen des Hitler-Stalin-Paktes "heim ins Reich". Hitler überließ das Baltikum dem sowjetischen Einflussbereich. Zurückbekommen hat die Familie von Estland nichts. Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden nur jene entschädigt, die 1940 beim Einzug der Russen in die Grundbücher eingetragen waren.

Was jetzt wie eine Geschichte über alte Besitzansprüche, Rückgabe der Ländereien und Nationalismus anklingen könnte, ist in Wahrheit eine Geschichte von Verbundenheit, Wurzeln und Verantwortungsbewusstsein. Vielleicht auch eine Geschichte über Heimat und die Suche danach. Und vielleicht ist das der Grund, warum der Hamburger Rechtsanwalt Alexander von Samson-Himmelstjerna jedes Jahr einen fünfstelligen Betrag nach Rauge überweist, ohne dafür etwas zurückhaben zu wollen.

Seine Frau Angela (59), eine elegante, jugendlich wirkende Frau, sagt: "Das hat mit Ratio gar nichts zu tun." Sie lächelt verständnisvoll. Sogar ihren vergangenen Hochzeitstag haben die beiden in Rauge gefeiert, und die Bewohner des Ortes hätten in der Kirche das samsonsche Familienlied gesungen. Ganz so, wie es früher auch gewesen sei.

Inzwischen ist die Delegation aus Rauge, auf die Alexander von Samson-Himmelstjerna gewartet hat, eingetroffen. Mit dem Auto war sie zweieinhalb Stunden von Rauge nach Riga gefahren, von dort aus eineinhalb Stunden bis Hamburg geflogen. Die Pastorin von Rauge, Kätlin Liimets, eine Frau mit roten kurzen Haaren, steht jetzt mit den anderen Besuchern des Dorfes, darunter der Direktor der Schule, ein Abgeordneter des estnischen Parlaments, der zweite Bürgermeister und der Stellvertreter des Gemeinderates, im Garten von Samson-Himmelstjerna und trinkt ein Glas Begrüßungsbowle mit Erdbeeren. Alles nur für das Fest. Sie erzählt, dass ihre Kirche jetzt wieder eine restaurierte Orgel hat. "Ohne Alexanders Hilfe hätten wir das nicht geschafft", sagt sie und berichtet auch von der Bibliothek, vom Heimwerkerraum, den Schulmöbeln und von der Hausrenovierung der Villa "Sonneck", des einstigen Gutshauses der Familie, das jetzt Jugendzentrum ist. All das wurde mit Alexanders Geld hergerichtet.

Eine fehlt in der Runde, an ihr könnte man den Gegensatz zwischen Gastgeber und Gast am besten aufzeigen. Es ist die 36-jährige Notarin Inga Anipai. Mit ihr haben sich die Samson-Himmelstjernas angefreundet. Die Beziehungen zwischen ihren beiden Familien sind eng. Inga hat drei Monate bei Alexanders Schwester in Nienburg gelebt und ein Praktikum in einer Kanzlei gemacht. Und Ingas zweieinhalbjährige Tochter heißt Isabel, benannt nach Alexanders Tochter. Er hat Zwillinge: Isabel und Hubertus, 18 Jahre alt.

Es ist eine Freundschaft, die historisch gesehen schlechtere Voraussetzungen nicht hätte haben können. Sie ist die Tochter des letzten Sowchose-Leiters, er der Enkel des letzten Großgrundbesitzers von Rauge. Sie, aufgewachsen im sozialistischen System der Sowjetunion, sattelt inzwischen mehrmals im Jahr die Pferde. Immer wenn Alexander Rauge besucht, dann reiten die beiden aus. Über Wege und Felder, auf denen schon seine Großeltern spazieren gegangen sind. "Ich finde unsere Freundschaft gar nicht ungewöhnlich", sagt der Gastgeber. Vielleicht, weil er ein Mensch ist, der lieber die Gemeinsamkeiten sieht, beide sind Juristen und lieben den Ort. Obwohl nur sie diejenige ist, die dort aufwuchs.

Alexanders Gefühle für die Heimat seiner Familie sind erst im Laufe der Zeit entstanden, durch Erzählungen. Er trug diese Sehnsucht in sich, ohne eigentlich genau zu wissen, wonach. In seiner Rede, die Alexander zwischen dem ersten und zweiten Gang - Salat, Quarkkartoffeln und Gegrilltes - hält, sagt er: "Früher habe ich immer nur gehört, Rauge, das ist das Beste gewesen. Ich konnte das nicht glauben, aber nachdem ich das erste Mal dort war, hat auch mich der Ort nicht mehr losgelassen."

Das war 1989, damals gehörte Estland noch zur Sowjetunion. Er hatte die Reise eigentlich seinen Eltern Hermann und Ina zur Goldenen Hochzeit geschenkt. Begleitet wurden sie dabei von einer "Aufpasserin", die ihnen offiziell als Dolmetscherin zur Seite gestellt wurde. In den baltischen Staaten allein zu reisen war Ausländern nicht erlaubt.

Viele Bewohner von Rauge seien anfangs skeptisch gewesen. "Was will der hier?", hätten sie gefragt und gehofft, dass zumindest alles beim Alten bleibt. Jetzt sind ihm viele für sein Engagement dankbar. Für Alexander ist es die Fortführung einer Tradition, die 50 Jahre lang unterbrochen war.

Dabei hält er nichts von Restitution oder davon, das irgendetwas an ihn zurückgegeben werden soll. "Das ganze Elend mit dem Nationalen, Besitzansprüche, das interessiert mich nicht." Viel eher möchte er etwas gutmachen. Ihm sei es so viel besser gegangen, dadurch, dass seine Familie nach Deutschland musste. Er wuchs in Freiheit auf, das sei für ihn entscheidend, nicht das Finanzielle. Nach dem Krieg arbeitete sein Vater als Fuhrunternehmer, Hilfsarbeiter beim Bau, Angestellter bei einer Bank. Erst 1953 wurde der promovierte Jurist Beamter in Bad Homburg. "Die, die in Estland bleiben mussten, denen ging es schlecht." Bildung sei so ein Punkt; hier hätten seine Kinder alle Chancen, aber die Kinder in Rauge hätten sie nicht.

Nach dem Essen gibt es Wodka. Die Esten rufen "Tervi Seks", was so viel wie "wohl bekomms" bedeutet. Dann hält Toomas, der Direktor der Schule, eine Rede, wieder Wodka, dann der Parlamentarier Kalvi, wieder Wodka, dann die Pastorin, dann der Stellvertreter des Gemeinderates, Jaak Pächter. Er erzählt von Alexanders Großvater: "Man sagt von ihm, dass er ein guter Mann war und sich nie darüber beklagt hat, wenn mein Opa ihm die Fische aus dem See geklaut hat." Wieder Wodka; estnische Sitten in einer Villa an der Alster.

Für Alexander ist diese Erzählung wie ein Geschenk. Und er steht einen Moment da, wie jemand, der ausgezeichnet wurde. Er hält jetzt seine zweite Rede; er sagt: "Ich fühle mich als Teil eurer Gemeinschaft." Und es ist dieser Satz, der seine Sehnsucht erklärt. Eine Gemeinschaft, so wie diese, hat er in all den Städten, in denen er gelebt hat, nicht gefunden. Nicht in Würzburg, nicht in München, nicht in Kapstadt und New York und Austin in Texas. Wohl auch nicht in Hamburg. Erst zu Rauge fühlt er sich zugehörig, und die Menschen von Rauge haben ihn aufgenommen.

Warum? Weil er dem Dorf finanziell hilft? Hat er sich die Gunst der Bewohner erkauft? An diesem Abend hat es nicht den Anschein. Nicht er ist der Spender, der Gönner, sie gönnen es ihm, zu ihrer Gemeinschaft zu gehören.

Auf dem Friedhof von Rauge wurde vor Kurzem ein Gedenkstein für seine Familie errichtet, für alle, die in Rauge geboren sind, aber nicht begraben werden konnten. Für Alexander von Samson-Himmelstjerna ist es ein glücklicher Abend, er erhebt sein Glas und ruft: "Tervi Seks." Laut.