Einkaufen, einkleiden, einziehen in die Bleibe ohne Gitterstäbe. Und am Abend Sex! So will Ronny Eisenbrandt sein neues Leben beginnen - und hofft, dass es nicht wieder so endet wie beim letzten Mal: im Knast.

Stuttgart. Die Freiheit schmeckt nach Nikotin und Kaugummi. Ronny Eisenbrandt, fast kahl geschorener Schädel, einen Seesack auf der Schulter, zieht den Rauch tief durch die Lunge. Das hilft gegen das Zittern der schweißigen Finger, die seit Tagen nicht mehr zu beruhigen sind. "Wir sehen uns hoffentlich nie wieder", gibt ihm der Justizbeamte mit auf den Weg und dazu einen festen Händedruck.

Die Stahltür fällt mit einem leisen Klicken ins Schloss. Der 23-Jährige dreht sich an diesem sonnigen Morgen nicht mehr um. Er will nur weg von den hohen Mauern und Überwachungskameras. "Endlich geschafft - Halleluja!", ruft Ronny und lässt vor lauter Nervosität die Marlboro-Schachtel auf den Boden fallen. 350 Tage Stammheim liegen hinter und sein erster Tag in Freiheit vor ihm. Kein Wunder, dass er es eilig hat.

Er hat sich alles genau überlegt und wieder verworfen in den schlaflosen Nächten unter der karierten Knastbettwäsche. Er hat viele Filme gedreht im Kopf von dem Tag, der morgens mit dem Gang in die Kleiderkammer der Justizvollzugsanstalt Stammheim beginnt. Jeder hat ein anderes Ende. Mal sitzt er in der Tabledance-Bar Tahiti mitten in Stuttgart, mal liegt er im Puff, mal im Krankenhaus, wo er künstlich beatmet wird. Wie bei seiner letzten Entlassung nach einem halben Jahr im Knast. Weil seine Freundin, die er heiraten wollte, nicht mehr seine Freundin war, sondern im fünften Monat schwanger von einem anderen. Er hat sich in der Kneipe zugesoffen. Beim Klogang fiel er gegen die von innen abgeschlossene Toilettentür und wachte erst im Hospitalbett wieder auf.

Auf dem Weg zur Straßenbahn steckt sich Ronny die zweite Zigarette an. "Ich will ein Mädchen", sagt er und drückt seine tätowierte Brust nach vorn. Den Namen der Verflossenen, um den ein Herz rankt, will er so schnell wie möglich entfernen lassen. Er braucht Platz für die Nächste: "Ich sehe doch gut genug aus, um für die Liebe nicht bezahlen zu müssen?" Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.

In der Linie 15 sitzt er ganz hinten, ganz allein und kann es nicht fassen, dass die Fenster vor seiner Nase nicht vergittert sind. Stuttgart ohne Eisenstäbe, an den Ausblick muss er sich erst noch gewöhnen. Die Fahrt ins neue Leben beginnt um kurz nach halb acht. Es ruckelt und wackelt in der Straßenbahn, und Ronny kennt den Weg nicht. Bloß nicht verfahren, bloß nicht an der falschen Station aussteigen. Ein Ticket hat er gelöst, er muss jeden Ärger vermeiden.

Die Angst ist seit Tagen seine Begleiterin. Sie raubte ihm den Schlaf. "Ich fürchte mich davor, dass wieder alles schiefläuft", gab er kurz vor seiner Entlassung zu. Auch die Sorge, dass seine Adoptiveltern ihn wieder als Versager abstempeln, drückt wie Bauchweh. Bei denen hat er sich mehr als ein Jahr nicht gemeldet. Die wissen nicht, wo ihr Sohn steckt, wissen nichts von den Plänen des 23-Jährigen. "Ich werde eines Tages deren Gaststätte erben", prahlt der frisch Entlassene und schwärmt von "der kleinen Kneipe" in Thüringen, die er entweder übernehmen oder verkaufen will, um an Geld zu kommen.

Doch erst muss er sich wieder mit dem Adoptivvater versöhnen, das hat er sich vorgenommen. "Der hat mich früher geschlagen, wenn mir am Esstisch etwas heruntergefallen ist", erinnert sich Ronny. Mit dem Rührlöffel, mit dem Teppichklopfer, mit dem Gürtel. Als Vierjähriger sei er aus dem Waisenheim geholt worden, seine leiblichen Eltern kenne er nicht. Es klingt wie nachgeplappert, wenn er sagt: "Ich war ein schwieriges Kind." Eines, das sich in den Heimen für Schwererziehbare erst alles und dann nichts mehr gefallen ließ. Das mit neun Jahren Raucher wurde und seinen Vater beklaute, um das Schutzgeld im Heim bezahlen zu können. Irgendwann fing er an, die anderen zu erpressen, er hat schnell gelernt. Nach seinem letzten Fauststoß hatte sein Gegenüber einen dreifachen Kieferbruch.

Die Freiheit schmeckt nach Bienenstich, Donauwelle und zwei Milchkaffee. Ronny hat seit Tagen kaum etwas gegessen und schaufelt die Schnitten in sich hinein, als würden sie ihm gleich wieder weggenommen. Zehn Kilo hat der gelernte Beikoch im Knast abgenommen und will sich erst mal neu einkleiden. Das mit der Wohnung kann warten. Er schimpft auf den Großküchenfraß im Gefängnis und erzählt von den Festtagen, als er sich und seinen Zellengenossen Stammheim-Torten kreiert hat - ohne Kochbuch und Backofen. Aus Biskuitboden, Quark, Bananen und dick Pudding drauf. Für einen, der nie Besuch und keinen einzigen Tag Freigang bekommen hat, ist das fast so gut wie ein Abend mit einer Frau. Nach langer Askese hat Ronny nur noch Sex im Kopf. Die Lust lasse sich nicht mehr unterdrücken, gibt er zu.

Er kauft von den 1159 Euro und elf Cent, die er sich als Arbeiter und Reiniger im Knast verdient hat, erst mal die Ausstattung für einen erfolgreichen Abend. Ein Handy, fast so dünn wie eine Rasierklinge, samt Headset, eine Parfümflasche Emporio Armani für 36,50 Euro, zwei enge Jeans, zwei Hemden, ein Cordsakko und Schuhe, über die sich jeder Zuhälter freuen würde. Weißes Leder muss es sein. Die Verkäuferin holt die Slipper aus der hintersten Ecke. Vorne spitz, mit Schnallen und klappernden Absätzen. Sie sind eine Nummer zu groß für den Gigolo. Er lässt sich eine Ledersohle hineinlegen. "Passt doch perfekt", sagt er und ändert mit jedem Schritt seinen Gang in der Fußgängerzone. Breitbeinig schiebt sich Ronny, schwer beladen mit seinen Einkaufstüten, zwischen den Passanten hindurch. "Erst mal eine rauchen."

Aus dem Bewohner von Bau III, Zelle 112, der es allen Beamten recht machen wollte und zu den Umgänglichen zählte, ist ein Macho geworden. Eine Metamorphose vom Aufputzer zum Aufschneider. Die Toiletten reinigen, die Essenstabletts austeilen - das ist vergessen. Statt Papierhäubchen und Schürze trägt Ronny eine lässige Mütze.

Den Kalender am Bett, an dem er die Tage zur Entlassung abzählte, hat er erst gar nicht mitgenommen: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" stand darauf. Er sei nicht wirklich christlich, wehrt Ronny ab. Er habe sich mal wegen einer Frau im Knast evangelisch taufen lassen. Aber das sei Vergangenheit, ihm sei klar geworden: "Jesus war ein stinknormaler Zimmermann. Der hat keine Wunder vollbracht."

Die Zukunft ist es, die Ronny Eisenbrandt interessiert. Die will er sich nicht wieder versauen lassen durch Schlägereien im Suff, durch Diebstähle, durch Widerstand gegen Polizisten. "Wenn man im Leben was erreichen will, muss man es selber tun", verkündet er und will so schnell wie möglich einen Job finden - als Lagerist oder in einer Küche. Dann auf den Führerschein sparen und nebenbei die 10 000 Euro Schulden abzahlen, die sich angehäuft haben. Ronny nimmt gut gelaunt den nächsten Bus zur Sozialberatung der Straffälligenhilfe. Die Sache mit der neuen Bleibe hat er schon vor Wochen eingefädelt.

Im Stuttgarter Osten wartet ein WG-Zimmer auf ihn - in einem Haus mit anderen Exknackis. Dort angekommen, dauert es keine fünf Minuten und Ronny sackt in sich zusammen wie ein Ballon aus dem langsam die Luft entweicht. Die deftige Schelte der Sozialpädagogin holt ihn auf den Boden der Realität zurück. Sie kann kaum fassen, wie viel Geld ihr Klient in wenigen Stunden ausgegeben hat. Sie verlangt weitere 341 Euro für Miete, Schlüsselpfand, Kaution, redet von polizeilicher Anmeldung, von Jobcenter und Schuldenberatung. "Das ist ein Schlag in die Fresse. Ich würde am liebsten zurück in den Knast", jammert Ronny kleinlaut und sagt plötzlich gar nichts mehr. Er sieht seine Partypläne für den Abend durchkreuzt, ist genervt, weil sein Geldbeutel immer dünner wird.

"Wenigstens ein Zimmer", tröstet er sich, als er die Bettwäsche auf die Matratze wirft. Zwölf Quadratmeter, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, und draußen lärmt eine vierspurige Straße. Im Knast sah es gemütlicher aus. "Sollte ich eine Frau abschleppen, kann ich die herbringen?", fragt Ronny und seine Hände schwitzen wieder.

Das Preisschild von H & M baumelt noch am Ärmel des neuen Hemdes. Das macht nichts. Denn Ronny und Gabriela (Name geändert) haben in der Innenstadt-Bar nur Augen füreinander. Sie stoßen mit dem dritten Tequila an. Ihr Turnschuh berührt seine weißen Lederslipper. Die 22-Jährige erzählt von den Limousinen, die sie geklaut hat, mit dem Laptop: erst die Alarmanlage überlisten, dann die GPS-Ortung ausschalten. Auf knapp 30 Autos hat sie es gebracht, ihr Ex, ein Kosovo-Albaner, hat ihr gezeigt, wie es geht. Ein Jahr saß sie in Schwäbisch Gmünd ein, vor zwei Wochen zog sie in die Stuttgarter Knast-WG im Osten - und traf heute auf Ronny.

Der spritzt sich Odol in den Mund, während sie auf dem Klo ist, und nimmt es gelassen, als er erfährt, dass Gabriela schon mit 16 ein Kind bekommen hat. "Das holen wir gemeinsam aus dem Heim, das verspreche ich dir", sagt Ronny. "Du kannst auf mich zählen." Die schlecht rasierte Backe, die er ihr hinhält, um sich einen Kuss abzuholen, ignoriert Gabriela.

An alles hat Ronny Eisenbrandt gedacht, nur nicht an eine Packung Kondome. In der Herrentoilette der Kneipe hat er keinen Erfolg. "Egal", sagt er, "das geht auch ohne", und macht sich kurz darauf auf den Heimweg mit seiner neuen Freundin. Die Freiheit schmeckt nach Gabrielas roten Lippen.