Das Baby soll schlafen, aber es schreit. Was tun? Junge Eltern und ihre Babys drehen sich oft in einer Stress-Schleife. Aus Prag kommt eine Idee, die zu Seelenruhe und Schlaf verhilft - unspektakulär, aber wirksam.

Johanna ist sechs Monate alt. Sie wäre das vollkommene Glück ihrer Eltern, wenn sie nicht jede Nacht schreien würde. Großeltern, Freunde und Nachbarn geben Tipps, die nicht helfen. Sylvia und Frank Gross sind am Ende ihrer Kräfte. Sie wollen Johanna nachts nicht mehr herumtragen, schaukeln, auf einem Sitzball hüpfen. Sie möchten nur noch eines: endlich durchschlafen. Auf Empfehlung ihres Arztes versuchen es Johannas Eltern mit einem Schlaf-Lern-Programm. Heutzutage glauben immer mehr Eltern, den Ratschlägen von Experten folgen zu müssen. Aus einer tiefen Verunsicherung heraus vertrauen sie der Fachkompetenz von Ärzten, DiplomPsychologen und -Pädagogen mehr als der eigenen Intuition und der eigenen Urteilskraft. Beim Durchstöbern der Abteilung Baby-Ratgeber im Buchladen geht wieder der Stress los. Viele Autoren behaupten: Babys müssen mit sechs Monaten durchschlafen. Das Nicht-Schlafen-Können sei eine Entwicklungsabweichung. Ist mit Johanna wirklich alles in Ordnung? Die Eltern machen sich Sorgen und quälen sich weiter durch durchwachte Nächte: Was haben wir nur falsch gemacht? Wie ist Johannas Entwicklungsdefizit aufzuholen? Was können wir besser machen? Es ist erstaunlich, wie wenige Eltern Expertenmeinungen in Frage stellen. Viele Fachleute gewinnen die Erkenntnis, wann ein Kind durchschlafen müsste, durch die so genannte "statistische Mittelwertbildung": Würden 100 Kinder mit vier Monaten und 100 Kinder mit acht Monaten durchschlafen, betrüge das durchschnittliche Durchschlaf-Alter sechs Monate. Obwohl aus solchen Durchschnittswerten kein echtes Kind "definiert" werden kann, orientieren sich viele Experten an dieser Statistik und geben es an Eltern weiter. So etwas verunsichert. Ein Test: Johanna wird nach dem empfohlenen Schlaf-Lern-Programm ohne Schnuller und ohne Schmusetuch ins Bett gelegt. Nach einem Gutenachtlied erklären die Eltern in ruhigem Ton, dass sie jetzt schlafen soll, und verlassen das Zimmer. Wie befürchtet, weint sie; doch drei bis fünf Minuten Schreien sind erlaubt. Dann erst dürfen die Eltern wieder mit ihrer Tochter "Kontakt" aufnehmen. Die Minuten vergehen zäh. Sylvia Gross wird immer nervöser. Sie glaubt, wenn sie jetzt nicht "durchhält", wird Johanna nie lernen, durchzuschlafen. Die Macht der "Regel zum Schlafenlernen" ist größer als der mütterliche Impuls, das schreiende Baby zu trösten. Sylvia Gross berichtet in einer PEKiP-Gruppe (siehe Text rechts) von ihren Strapazen. Sie macht sich Vorwürfe. Einige der anderen Eltern beruhigen sie, sie kennen das Problem: Wie findet man einen Ausweg aus dem Stress-Kreislauf von Schlafmangel und Erziehungskonsequenz? Mit Unterstützung der Gruppe geht das Ehepaar Gross einen anderen Weg. Statt sich am nächtlichen "Durchschlafen" festzubeißen, konzentriert es sich auf den Tag. Statt Abwechslung, Reizüberflutung und Unruhe zuzulassen, bringt Sylvia Gross den Tagesablauf von Johanna in einen Rhythmus: Jetzt gibt es feste Aufsteh-, Essens- und Spielzeiten. Nachmittags fährt die Schwiegermutter Johanna im Kinderwagen spazieren, und Sylvia Gross darf schlafen. Nachts wechseln sich die Eltern ab. Dieser Rhythmus passt zu der Familie. Johanna wird ruhiger und schläft mit neun Monaten durch. In den 80er-Jahren galt es als progressiv, wenn Kinder warm eingekuschelt im Elternbett schlummerten. Sie wurden so oft und so lange gestillt, wie sie wollten, Fläschchen waren verpönt. Statt Gläschen-Kost zu nehmen, kochten die Eltern das Essen selbst. Es galt: Tragetuch statt Kinderwagen, Hängematte statt Kinderbett. Hitliste der Baby-Literatur waren Bücher wie "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" von Jean Liedloff. Aber das Erziehungsideal "Glück" stellte höchste Ansprüche an die Eltern. In selbstlosem Einsatz wollten sie ihren Säuglingen Frustrationen ersparen. Doch die glückliche Freiheit für Kinder bedeutete für viele Eltern Ringe unter den Augen, Rückenschmerzen, tägliche Überforderung. Und die Kinder entwickelten sich trotzdem nicht zu den ersehnten Engelwesen. Im Gegenteil: Je freier die Erziehung, desto unzufriedener gebärdeten sie sich. Die in Stuttgart arbeitende Kinderpsychologin Irina Prekop sprach 1991 in ihrem berühmten Buch "Der kleine Tyrann" schon im Titel von der Fehlentwicklung im Eltern-Kind-Verhältnis. Brauchen Eltern denn unbedingt Autoritäten, die ihnen Autorität geben? Die Angst vor Fehlern lässt Erwachsene auf Kurse und Anleitungen zurückgreifen. Sich im großen Ratgeber-Angebot zurechtzufinden ist aber schwer. Unspektakulär, aber lohnend ist es dagegen, wenn Eltern sich die Zeit nehmen und das eigene Kind als individuelles Wesen schätzen lernen - jeder Entwicklungsschritt ist einzigartig. Weil Eltern sich dann vor allem auf ihre Wahrnehmung und das Vertrauen in ihr Kind verlassen können, erübrigen sich viele Erziehungsprobleme. In den PEKiP-Kursen geht es darum, Eltern zu bestärken, der eigenen Wahrnehmung zu trauen und daraus eigene Entscheidungen abzuleiten. Zum Weiterlesen : Emmi Pickler: Lasst mir Zeit, Pflaum, 246 S.; 22 Euro. R. Zimmer: Handbuch der Sinnes- wahrnehmung, Herder, 222 S.; 17,50 Euro. Sally Goddard: Greifen und Begreifen. VAK, 200 S.; 18,50 Euro. Die Gruppe hilft den Eltern bei ei- nem neuen Weg: Statt sich am nächtlichen "Durchschlafen" festzubeißen, achten sie mehr auf den Tag.