Auf der Ehe von Kohle und Stahl gründeten sich Wohlstand, Krieg, wieder Wohlstand - und schließlich die Einigung Europas.

Hamburg. Als der Wiener Kongress nach Napoleons Niederlage 1815 König Friedrich Wilhelm III. Westfalen und das Rheinland zuspricht, ist der Preuße wenig erfreut: Die neue Provinz mit ihren kaum 250 000 Bewohnern gilt als rückständig, die Städte sind winzig. Duisburg hat 5700 Einwohner, Essen 4000, Dortmund 4300 und Bochum 2100. Es gibt kaum Industrie, und schon 1817 bricht eine Hungersnot aus.

Ein Jahrhundert später ist das Ruhrgebiet die Stahlschmiede des Reiches, Motor der industriellen Entwicklung Deutschlands, Magnet für Millionen Menschen aus Mitteleuropa, Schlachtfeld eines neuen Geldadels im Kampf um Milliardenvermögen und Mekka eines Mythos aus Fossilien und Flammen: Kohle.

"Blas in die Glut, / Hoch lodert das Feuer. / Es geht uns gut, / Wenn die Schlote rauchen. / Wir haben mehr, als wir brauchen, / Und das Brot ist nicht teuer", singt eine Ruhrgebietsballade. Hundert Jahre lang versäumt kein Politiker den populären Hinweis auf die erdgeborene Urkraft der Region. Witze mit Kohle als Brennstoff und Kohle als Geld, mit Zeche zum Arbeiten und Zeche zum Zahlen, mit Essen auf dem Tisch und Essen auf der Landkarte halten sich bis heute. Die Steinkohle setzt nicht nur physikalische, sondern auch emotionale Energie frei - in solchen Mengen, dass Politiker es erst diese Woche - und selbst jetzt nur verklausuliert - wagen, die allerletzte Phase des Bergbaus einzuläuten.

"Ein Zeitalter geht zu Ende", schrieb der Industrie-Historiker Lutz Graf Schwerin von Krosigk schon 1957 in seinem Standardwerk "Die Große Zeit des Feuers", "es war von der Flamme bestimmt. Zum zweiten Mal schien das Feuer den Göttern entrissen, als der Mensch es sich herrischer dienstbar machte." Feuer erhitzt den Dampf, der Maschinen und Lokomotiven treibt. Feuer kocht den Stahl, der ein neues Zeitalter in immer kühnere Formen von der Brooklyn Bridge bis zum Eiffelturm gießt. Feuer macht es den Menschen leichter, sich zu wärmen und zu nähren. Die Kohle aber ist der Urstoff dieser vom Menschen gemachten Schöpfung: Sie liefert die Energie zur Verwandlung einer ganzen Welt.

Die vielen Märchen, die sich um das schwarze bis bräunliche Sediment aus der Urzeit des Planeten ranken, führen ins Mittelalter zurück. Das wohl älteste schildert das Abenteuer eines Schäfers, der durch eine Falltür zu Otto dem Großen in den Kyffhäuser kletterte. Gnädig gestattete der Kaiser ihm, von den glühenden Kohlen mitzunehmen, an denen er sich wärmte. Der Hirt packte sie in seine Ledertasche; als er wieder ans Licht kam, waren daraus Goldklumpen geworden.

In den realistischeren Geschäftsblick der Erfinder und Unternehmer geriet die Kohle erst spät: Zwar hatten Engländer bereits im 9. Jahrhundert verwundert festgestellt, dass der brüchige Stein, der hier und dort aus dem Löss starrte, brannte und sogar größere Hitze gab als die Holzkohle, aber noch wuchs überall Holz in Fülle. In Deutschland nutzten im 12. Jahrhundert als Erste die Mönche des Klosters Limburg Kohle aus dem Aachener Revier. Marco Polo verblüffte mit dem Bericht, die Chinesen heizten das Wasser für ihre Badewannen mit schwarzen Steinen. Im 14. Jahrhundert interessierten sich auch deutsche Schmiede für den Brennstoff. Allerdings galt er als gesundheitsgefährlich: Noch um 1350 verboten Zwickaus Stadtväter, sie innerhalb der Mauern zu verwenden.

Der Erste, der nicht mit Magie, sondern mit Unternehmermut aus Kohle Gold macht, ist Franz Haniel (1779-1868) aus Duisburg-Ruhrort. Der Sohn eines Weinhändlers gründet mit 21 einen Brennstoffhandel, baut 1821 den ersten Koksofen und teuft 1834 bei Essen den ersten Mergelschacht des Ruhrgebiets ab: Weil Dampfkraft das Wasser herauspumpt, können Kumpel senkrecht zu den viele Hundert Meter tiefen Flözen vordringen.

Technik löst den mittelalterlichen Stollenbergbau ab: Vorher wurde die Kohle mit Schießpulver aus dem Berg gesprengt, und Grubenpferde zogen sie durch die Dunkelheit. Haniels Bergleute arbeiten mit Drucklufthämmern und Schrämmmaschinen, später mit Förderbändern und Schüttelrutschen. Der Chef formt als Erster jene Verbundwirtschaft aus Kohle und Stahl, die das Revier groß macht, baut Bahnlinien, Straßen, Schiffe und den Ruhrorter Hafen.

Aus der Ehe von Kohle und Stahl wächst Deutschlands Schwerindustrie, Hochöfen stehen auch in Sachsen und im Saarland, in Oberschlesien und der Oberpfalz. Doch nirgends formt das fossile Feuerwerk das Antlitz der Erde so nachhaltig neu wie an Rhein und Ruhr. Als Haniel zur Welt kam, war Deutschland noch ein Bauernland. Ackerbürger pflügten vor den Toren ihrer Städte Felder und weideten Kühe. Das Ruhrgebiet hieß noch "Grafschaft Mark", Reisende ratterten in Postkutschen über Knüppeldämme. Als Haniel stirbt, durchziehen Dutzende Kanäle das Land, türmt der Abraum neue Berge auf, streut der Fortschritt Millionen Häuser für Bergleute und Fabrikarbeiter in stille Täler, rasen Reisende auf Straße und Schiene in Minuten von Stadt zu Stadt.

Im 20. Jahrhundert folgt dem Rausch der Ruin, der Stahl fliegt in Kugeln zum Feind und kehrt in Bomben zurück. Es ist auch die Besetzung des Ruhrgebiets durch die französischen Sieger des Ersten Weltkriegs, die Hitler Wähler zutreibt. Und es ist Furcht vor einem wirtschaftlich-militärischen Wiedererstarken Deutschlands, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Alliierten veranlasst, das Industriezentrum zu demontieren. Der US-Finanzminister Henry Morgenthau will das Ruhrgebiet sogar schließen und Deutschland als Agrarland weiterleben lassen.

Die Kohle ist stärker, sie befeuert das Wirtschaftswunder, und in den 50er-Jahren ist das Ruhrgebiet schon wieder Europas Wachstumsmotor Nummer 1. Die Kohle ist es auch, auf der sich das friedliche Europa baut: 1951 gründen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Montanunion als gemeinsamen Markt für Kohle, Eisenerz, Stahl und Schrott - die Keimzelle der EU.

Der Preis der rauchenden Schlote und anderen Umweltschäden ist hoch, zum Mythos Kohle gehören auch Schicksalsschläge für Mensch und Gesellschaft von der Staublunge bis zum Grubenunglück. Das Ringen in der Tiefe fördert den Glauben an überirdische Mächte: Nach der Rettung von elf bereits aufgegebenen elf Bergleuten 1963 in Lengede aus 58 Meter Tiefe druckt "Bild" die legendäre Schlagzeile "Gott bohrte mit". Die moderne Zeit mit ihrem Umweltbewusstsein gibt auch dem Mythos eine Wendung: In den 70er-Jahren schwinden die "rauchenden Schlote", 1961 macht Willy Brandt den "blauen Himmel über der Ruhr" zum politischen Ziel. Heute halten Museumsbergwerke die Erinnerung an den Kohlebergbau im Ruhrgebiet wach. Die Kohle kommt aus anderen Weltgegenden, der Mythos wird umgeschrieben: die Kohle als Energie der Zukunft, sauber wie das Gas und sicherer als das Atom.