Lippenleser können mehr enthüllen als ein Spionagesatellit. Und eine Expertin für Körpersprache analysierte Saddam so lange, bis sie ihn von seinen Doppelgängern unterscheiden konnte.

Hamburg. Der amerikanische Telefontechniker Mark Klein macht eines Tages eine sensationelle Entdeckung. Sein Arbeitgeber, der US-Telekomunikationsgigant AT&T, hatte ihn nach San Francisco geschickt, um Arbeiten am Internet-Raum in der dortigen Zentrale vorzunehmen, in dem weltweite Verbindungen zusammenlaufen. Klein bemerkt, dass ein Teil des Lichtes in den Glasfaserkabeln in einen streng geheimen Raum abgezweigt werden. Und nach und nach löst er das Rätsel von "Room 641 A": Nach seinen Angaben stehen in diesem 8 mal 16 Meter großen Zimmer an der Folsom Street Supercomputer des Typs Narus STA 6400. Sie filtern für den Geheimdienst National Security Agency (NSA) Millionen Telefonanrufe und E-Mails nach nützlichen Informationen.

"Room 641 A" ist Teil des gigantischen NSA-Spionageprojektes "Echelon". Die NSA mit ihrem Hauptquartier "Crypto City" in Fort Meade im US-Bundesstaat Maryland beschäftigt unter ihren geschätzten 38 000 Mitarbeitern mehr Mathematiker und Kryptologen (Entschlüsselungsexperten) als irgendein anderes Unternehmen der Welt.

Nach Auffassung des EU-Parlamentes dient "Echelon", mit dem ein Großteil der weltweiten Kommunikation abgefangen wird, zur Wirtschaftsspionage. Doch ganz gewiss fahndet "Echelon" in den letzten Jahren vor allem nach Terroristen. Gigantische Computer durchforsten die Daten nach verdächtigen Schlüsselbegriffen. Die NSA hat Zugriff auf Spionagesatelliten der Typen "Keyhole" (optisch) oder "Lacrosse" (Radar). Die "Keyholes" können aus dem Weltraum Objekte von wenigen Zentimetern Größe erkennen, also erst recht Gesichter identifizieren.

Im Mai dieses Jahres berichtete die Zeitung "USA Today", dass die NSA, der größte und finanziell am besten ausgestattete Geheimdienst der Welt, ohne Wissen des amerikanischen Senats und ohne Genehmigung der Gerichte die Verbindungsdaten aller Telefongespräche in den USA und aller Auslandsgespräche erfasst hatte.

Nun sollte man meinen, angesichts einer so lückenlosen elektronischen Überwachung könne es kaum noch zu Spionagepannen kommen. Doch wie Konflikte - Irak, Libanon, etc. - in jüngster Zeit bewiesen, ist das ein Irrtum.

Im Falle des Irak versorgten die US-Geheimdienste die Regierung mit falschen Informationen. Und im Kampf gegen die Hisbollah im Libanon stießen die israelischen Truppen vor wenigen Wochen auf einen Gegner, der weitaus besser ausgerüstet, ausgebildet und motiviert war als angenommen. Das hatte der legendäre Mossad einfach nicht gewusst. Warum nicht?

Die elektronische Aufklärung ist nur ein Teil der Spionagearbeit. In der Sprache dieses schattenhaften Gewerbes versteht man unter der Abkürzung "Sigint" (Signals Intelligence), das Abfangen von Daten. Unterbereiche sind "Elint", die elektronische Aufklärung, "Comint", die Kommunikation abfängt oder "Imint" (Imagery Intelligence), das sich mit Fotos aus Satelliten und Flugzeugen befasst.

Doch der wichtigste Teil der Spionage, sozusagen die Abteilung "James Bond", war von den technik-infizierten Geheimdiensten vor allem der USA jahrelang sträflich vernachlässigt worden: "Humint". Die "Human Intelligence", die Aufklärung durch Menschen, war lange Zeit drastisch zurückgefahren worden, weil man meinte, die Elektronik leiste viel mehr. Mit bösen Konsequenzen, siehe Irak und Libanon.

Inzwischen übt sich die Schattenwelt in der Rolle rückwärts, suchen NSA, CIA, MI6, BND und andere westliche Geheimdienste händeringend und per Internet nach leistungsfähigen neuen "Schlapphüten".

Besonders begehrt sind neben Kryptologen Kenner orientalischer Sprachen und Dialekte wie Arabisch oder Farsi. Denn was nützt einem das über Afghanistan abgefangene Mobil-Telefonat zwischen Al-Qaida-Aktivisten, wenn man nicht versteht, was sie sagen? Vor allem, wenn sie sich bei der Vorbereitung eines Anschlages blumiger Umschreibungen bedienen, an denen die arabische Sprache so reich ist? Auch die uralte Spionagetechnik des Lippenlesens kann hervorragende Dienste leisten, wie jüngste Neubewertungen von Stummfilmen aus dem Privatleben Adolf Hitlers demonstrieren. So lästert der "Führer", als er seinen fetten Paladin Hermann Göring beim Essen beobachtet, leise gegenüber Eva Braun, es sei ja bekannt, dass Schweine ihresgleichen verzehrten.

Über eine andere wertvolle Facette des "Humint" berichtet jetzt die "Zeit": die Körpersprache als verräterisches Element der Aufklärung. Ein Körper ist für den Experten niemals stumm. "Man lügt zwar mit dem Mund, doch durch das, was man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit", erkannte schon der Philosoph Friedrich Nietzsche.

Im Auftrag des Pentagon analysiert die 50-jährige Brenda Connors die Bewegungen ausländischer Politiker. Die Politologin und Professorin für Körperspracheanalyse am Naval War College in Newport, einer militärischen Denkfabrik, arbeitet typische Bewegungsmuster heraus, um Rückschlüsse auf die Geisteshaltung der Staatsmänner zu ziehen. Ziel ist: "Wie können wir die Auseinandersetzung mit diesen Menschen aus amerikanischer Sicht besser gestalten?"

Mehr als 30 Kriterien werden dabei berücksichtigt, etwa: Wie nutzt jemand den Raum, wie verteilt er sein Körpergewicht, wie läuft der Energiefluss in Arme und Beine? So fand sie anhand von Videosequenzen, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin zeigen, heraus, dass Putin offenbar Kinderlähmung hatte und falsch behandelt wurde. Er schleife das rechte Bein nach und schwinge den linken Arm energisch auf und ab. "Es ist beeindruckend, wie er seine körperlichen Handicaps kompensiert", sagt die frühere Balletttänzerin Connors über den ehemaligen Leningrader Meister im Judo. Doch Putin bewege sich im Grunde "wie ein Reptil" und habe auch das aggressive Verteidigungsgebaren dieser Tiere" - eine wichtige Botschaft für das Pentagon.

Eines ihrer Lieblingsobjekte ist Saddam Hussein, dessen Videos sie in Superzeitlupe studiert. Unter Stress reibe sich der irakische Ex-Tyrann das Augenlid und strecke dann plötzlich den Zeigefinger empor. Mit solchen Informationen konnten die US-Geheimdienste die zahlreichen Saddam-Doppelgänger rasch vom Original unterscheiden. Eine seriöse Analyse von 30 Minuten Videoband dauere 150 Stunden, sagt Connors. Viel Aufwand - doch der Wert von derartigen "Humint"-Projekten für Regierungen stellt oft so manche weit aufwendigere "Sigint"-Mission weit in den Schatten.

Im "Humint"-Bereich die richtige Quelle am richtigen Platz zu wählen sei für alle Dienste "die hohe Kunst, sagte einmal der heutige Innen-Staatssekretär August Hanning, als er noch Chef des Bundesnachrichtendienstes war. "Da können wir nie gut genug sein."