Bewegung: Die Lehre von einem Leben nach den Geboten Gottes findet unter Jungen Menschen immer mehr Anhänger. Esbjörn Gerking (21) predigt von Jesus und dem Glück, sich nach den Regeln der Bibel zu richten. Für viele Jugendliche die sehr lange ersehnte Stütze im Alltag.

Berlin. Leere muß mit Lehre gefüllt werden. Wie ein vertrocknetes, zerfurchtes Flußbett mit frischem, rauschendem Wasser. Oder auch ein Menschenleben mit einem Sinn, einer Mission, zum Folgen und Erfüllen. So wie der Fluß seinem Lauf folgt, eingezwungen, angeschoben und doch mit eigener Kraft. Für Esbjörn Gerking (21) hatte die Leere einen Namen: Mein Leben. Die Lehre, um diese zu füllen: Mein Gott. Klare Gebote, ein eindeutiger Weg, die eigene Unterwerfung, der Anschub, um auch andere mitzureißen. Eine Mission. Der ersehnte Halt im Nichts.

War Freiheit und Selbstentfaltung für die Generation von Gerkings Eltern und in den achtziger und neunziger Jahren noch das Nonplusultra der Jugend, gibt es heute einen Trend zu Orientierung an moralischen Autoritäten. Kirchen, spirituelle Sekten und religiöse Gruppen wie "The Call" aus Hannover erhalten immer mehr Zulauf. Allein in die Amtskirchen treten pro Jahr rund 40 000 Menschen, zumeist junge, ein. "Und auch The Call erlebt einen Boom", wie Gerking sagt. Denn Glauben biete Halt.

Dieser Halt ist das Wort, die geschriebene und verkündete Lehre. Vor jedem seiner Auftritte für die christliche Jugendorganisation The Call sendet Gerking Worte zu sich und seinem Anker. "Gott, hilf mir das Wort zu sagen", ist seine Meditation mit einer vom Gebrauch gezeichneten Bibel in der Hand, geschlossenen Augen, den Kopf in den Nacken gelegt. Rundherum sind zu diesem Zeitpunkt seine "Glaubensbrüder und Glaubensschwestern" meist schon weggetreten. Schreien, kreischen, singen, johlen, vom Lachen verzerrte Gesichter, fließende Tränen. Gottesdienst. Der Ablauf ist immer derselbe: Einpeitschen durch den Priester, Lieder, Gerkings Rede und Beschwörung, Lieder. Der Saal kocht regelmäßig schon nach den ersten Strophen. Diese Stimmung muß Gerking halten. Wie ein Rockstar, der, während die Vorband noch spielt, hinter der Bühne schon die erwartungsfroh jauchzende Groupie-Masse hört. Dann beginnt das Kribbeln in den Knien, zieht sich durch die Oberschenkel über Bauch und Rückgrat bis in den Nacken zum Kopf.

Spot an. "Die Überzeugung muß aus dir herausbrechen, nur dann kommt die Botschaft an", erklärt Esbjörn. Doch zunächst muß er die Jünger überzeugen, daß sie jetzt das Wort und die Botschaft und die Lehre Gottes hören. "Amen"? fragt er provokant in die Menge. Die erstarrt für zwei Schrecksekunden, dann schallt es: "Amen!!!" Die Brüder und Schwestern zwischen 12 und 32 Jahren brauchen erst einen Moment, um zu kapieren, was sie sein sollen. "Ihr seid Königskinder. Versteht ihr das?! Königskinder, ey! Ey Mann, das heißt, ihr habt Potential, echtes Potential." Dazu hebt Gerking die dünnen Finger in Richtung der Lauschenden, als wolle er sie hypnotisieren und die Kraft des Wortes auf sie fokussieren. Und sie sind getroffen, erschreckt. Als hätten sie so etwas noch nie über sich gehört. Sie hätten Potential . . .! Sie seien Kinder eines Königs . . .! (wer ist das schon!) Sie könnten etwas bewegen, die Welt besser machen . . .! Total scharf. Oder? "Aameeen!!!"

Diese frohe Botschaft ist es, die immer mehr Jugendliche zu den kleinen Zirkeln der beseelten Gottesjünger von The Call, No Limit" & Co. treibt. Klare Ansagen, was zu tun und was zu lassen ist. Die gibt es nicht bei den Eltern, nicht in der Schule, nicht im Freundeskreis. Aber dafür in den erleuchteten Kreisen von The Call.

Und der Ruf kommt direkt von Gott. "Das ist für junge Leute eben ein Anziehungspunkt, weil sie Verantwortung abgeben können", sagt Gabriele Lademann-Primer, Sektenbeauftragte der Nordelbischen Kirche. Der Mensch denkt, Gott lenkt: Dieser alte Glaubenssatz bedeute für junge Menschen eine echte Lebenshilfe und biete das Gefühl der Geborgenheit, das Gefühl, irgendwie "das Richtige" zu tun. "Die Prinzipien sind immer dieselben", sagt Lademann-Primer. "Kein Sex vor der Ehe, sonstige Enthaltsamkeit beispielsweise, aber auch, daß Schwule krank sind und geheilt werden müssen." Die reine Lehre bedeute in ihren Extremen auch die Ausgrenzung derer, die nicht dazugehören. Das sei ein Problem. "Aber die Masche klappt immer wieder", konstatiert Lademann-Primer und macht noch eine weitere Anziehungskraft, diesmal umgekehrt, aus. "Für Profilneurotiker ist so etwas natürlich einfach klasse. Es gibt immer wieder Leute, die gerne mal Guru sind, und die schaffen sich mit ihren Predigten und Events gleich eine eigene Fangemeinde." Personenkult sei weit verbreitet, auch wenn das im Gegensatz zu Gottes Geboten und Götzenverboten steht.

Doch mögliche Zweifel verbieten sich. Glauben ist geboten. Besonders anfangs wäre das aber schwer, sagt Gerking. Das habe er auch erlebt. Damals, als alles den Bach runterging. Die Eltern geschieden, sein Vater abgetaucht. Er selbst war von der Schule geflogen wegen Hyperaktivität, null Bock, Alkohol, Drogen, Depressionen. Haltlose Leere. "Ich habe mich auf den Boden geschmissen, geschrien und geheult. Es ging nicht mehr. ,Gott!' habe ich gerufen, ,Gott, wenn es dich gibt, dann lass' es mich wissen'", beschreibt er mit hastiger Miene und fuchtelnden Händen seine persönliche Bekehrung. "Und dann hatte ich einmal diesen Traum: Ein Mann steht am Wasser und fragt: ,Möchtest du mitmachen?'" So sei das gewesen, seine Begegnung mit dem Vater im Himmel. Gott mache die Türen auf, aber durchgehen müsse jeder dann selbst. Den Schritt auf die andere Seite machen, Transzendenz wagen.

Hingabe und Transzendenz üben und zelebrieren die jungen Fans von Vater, Sohn und Heiligem Geist regelmäßig bei ihren The-Call-Treffen. Meist auf irgendwelchen Hinterhöfen in kleinen Räumen, die an die versteckten Messen der frühen kleinen Christengemeinden im alten Rom erinnern.

In Berlin startet so ein Happening unter den Schienen der S-Bahn in einem Kreuzberger Jugendtreff der Kirche am Südstern. Und hier geht es jetzt gefälligst ab, hämmert Einheizer und Pastor Werner Nachtigall den gespannten Jugendlichen gleich zu Beginn ein. "Es ist so scharf, daß du heute hier bei uns bist, Jesus, yeah!" Reckt die geballte Faust Richtung Himmel und schaut in die Menge. "Und jetzt woll'n wir kurz beten und dann 'nen richtig geilen Lobpreis machen, bevor Esbjörn uns was von Gott erzählt, ja?!" Dann dröhnt die Vorband für Esbjörn Gerking mit Schlagzeug, Bass und E-Gitarre los. Es ist Lobpreis. Die Pilger finden es geil und machen, wie ihnen per Videoleinwand über der Bühne vorgeschrieben wird. "Bitte bereitet euch mit Auflockerung, Schrei- und Pfeifübungen auf einen angemessenen Gottesdienst vor." Die Gemeinde rockt und kreischt sich zur Musik in Glaubensekstase. Wegtreten, sich fallen- und treiben lassen und in solcher Transzendenz den ersehnten Halt finden.

Mit dieser Sehnsucht sind sie nicht allein. Immer mehr Menschen in Deutschland, vor allem junge, wenden sich wieder dem christlichen Glauben, ob katholisch, protestantisch oder in anderen spirituellen Gruppen, zu. Das Verlangen nach einfachen, auch irrationalen, emotionalen Antworten nimmt zu in einer Zeit, die durch Rationalität und Komplexität geprägt ist, sagen Soziologen wie Professor Andreas Lange vom Deutschen Jugendinstitut in München. "Im Alter zwischen 14 und 18 durchlaufen die Jugendlichen einen Prozeß der Identitätsgewinnung und sind auf der Suche nach Identifikation", erklärt Lange. Organisationen wie The Call, aber auch Extrem-Veganer wie Straight Edge oder politische Gruppen mit links- oder rechtsextremen Weltanschauungen seien "handlungsentlastende Gruppen". Sie nehmen den orientierungslosen Jugendlichen die Arbeit ab, sich selbst eigene Werte und Leitlinien aus dem umfangreichen Angebot in der modernen Gesellschaft suchen zu müssen.

"Diese Gruppen bieten eine Matrix für Handlungsgrundlagen, indem sie sagen: Das ist gut, das sollst du tun und kommst in den Himmel; das ist schlecht, das sollst du lassen, hier wartet die Hölle." Die zentrale Dienstvorschrift aus dem Himmel, für das Leben auf der Erde. Jugendliche mit wenig sozialen Anbindungen suchten die Nähe zu solchen familienähnlichen Gruppen, wo sie sich zum ersten Mal sicher und geborgen fühlten, sagt Lange. Heute träfen zudem die gesellschaftliche Besinnung auf Werte und Offenheit für Dogmata mit der Orientierungsphase der Jugendlichen zusammen, was den Effekt noch verstärke.

So sagt auch Esbjörn Gerking von seiner Generation, sie sei "eine perspektivlose Generation" und schreie nach Hoffnung. Irgend etwas fehle den Menschen einfach. Liebe, Geborgenheit, Anerkennung gebe es zu selten . Und die anderen, die nicht glaubten, hätten auch keinen Arm, der sie auffangen könne, ihnen Kraft gebe, ihr Leben und ihre Welt zu verändern. Ohne Glauben, ohne das Wort gebe es keinen Halt.

Genau den beschwören darum Esbjörn Gerkings Auftritte ebenso wie die Lobpreis-Lieder. "Wenn es je an der Zeit war zu glauben, dann jetzt!" ist die einfache Antwort auf die schweren Fragen der Existenz, die von der Bühne herabgesandt wird auf die Menschen davor. Die reißen ihre Arme nach oben und rasten aus. "Dein Reich kommt mit Macht, die Pforten der Hölle erbeben. Du herrschst in Ewigkeit, dein Thron steht fest für immer." An einen festen Thron kann sich jeder klammern. "Herr, ich glaube an dich, ich lebe für dich!" Ihr geschrienes Bekenntnis. "Hier bin ich Herr, mach Geschichte mit mir." Das Flehen um eine Aufgabe, eine Mission, einen Sinn für das eigene Leben. "Nimm mich Gott. In deinen Arm." Der Halt. Endlich.

Diejenigen, die nicht zum Jesus-Rock herumspringen, stehen in der Menge, die Hände vor dem Mund gefaltet und sprechen Gebete. Eine 14jährige vor der Bühne bricht in Tränen aus und dann zusammen. Grenzerfahrung mit Gott unter Kreuzberger S-Bahn-Schienen. Solch eine Macht kann Liebe erzeugen. Auf der Bühne schluchzt die Sängerin jetzt betont lasziv von der Schönheit Jesu, und ein Raunen der Sehnsucht quillt aus den Menschenreihen hervor. Hingegeben, fallengelassen. Und zugleich mitgerissen von den berauschenden Worten, die in sie schießen wie Wasser mit martialischer Kraft in ein ausgetrocknetes, zerfurchtes Flußbett. Erfüllt.

Diese Erfüllung ist für sie zugleich ihre heilige Mission. Sie heißt Bekehrung. Dafür ziehen sie durch Deutschland, das Wort zu verkünden, "Seelen zu gewinnen". Wie das geht, lernen sie in eigenen "Street-Preacher-Academies" oder in "Worship-and-Warfare-Camps", die immer mit solchen Lobpreis-Gottesdiensten beginnen. Martialische Namen für die Botschaft der Liebe. "Das symbolisiert die Kraft der Lehre", erklärt Gerking. Jesus und seine Anhänger von The Call hätten eben das, was junge Menschen suchten. Klar, wuchtig, eindeutig und geradeaus. So lauten auch Gerkings Lebensmaximen. 1. Alle Menschen lieben. ("Glaube muß gelebt sein.") 2. Die Bibel ernst nehmen. ("Da liegt totaler Segen drauf.") 3. Jesus als Vorbild folgen. ("Ganz einfach - und rein.") Eine reine Lehre gegen die verzweifelte Leere.