Supergau: Vor 20 Jahren explodierte das Kernkraftwerk. Was wurde aus den Katastrophenhelfern, die Überlebten? Mit 19 Jahren baute er am Sarkophag für den geborstenen Reaktor mit. An die Folgen dachte keiner: “Der Militärarzt hat gesagt, wir sollten die melonengroßen Äpfel nicht mit bloßen Händen anfassen. Essen durften wir sie schon.“

Gomel/Weißrußland. Als er jung war, hat Pavel Lukaschow immer einen Weg gefunden, seiner Frau einen Liebesgruß zu schicken. Im Sommer 1986 war das äußerst schwierig. Ihm und den anderen Rekruten hatte man verboten, zu fotografieren und Briefe zu schreiben. Doch Pavel interessierte das nicht. "Der da rechts, das bin ich", sagt der heute 39jährige und zeigt ein Bild, auf dem zwei athletische junge Männer in die Kamera lachen. Sie haben sich aneinandergelehnt und scheinen nur so zu strotzen von einem Uns-gehört-die-Welt-Lebensgefühl. Heimlich hat Pavel das Foto seiner Frau zukommen lassen - damals während seines Einsatzes in Tschernobyl.

Fast 20 Jahre liegen zwischen der Aufnahme und heute - und Pavel Lukaschow ist nicht wiederzuerkennen: Sein Körper aufgeschwemmt, das Haar stark gelichtet; nur die wachen Augen sind geblieben. "Eigentlich ist alles kaputt: die Muskeln, die Knochen, die Leber, die Zähne, die Nerven, die Hirngefäße."

Am 26. April 1986 hatte die Mannschaft im Atomkraftwerk Tschernobyl die Kontrolle über den vierten Reaktor verloren. Eine gewaltige Explosion zerfetzte die Betonhülle und setzte eine radioaktive Wolke frei, die später auf der ganzen Erde meßbar war. Als Pavel das Datum wie an jedem Abend aus seinem Kalender strich, wußte er noch nicht, daß dies der entscheidende Tag für sein Leben gewesen war. Damals hatte er nur einen Gedanken: noch fünf Monate und vier Tage bis zu seiner Entlassung aus der Roten Armee.

Ein paar Wochen später wurde seine Kompanie ins Sperrgebiet von Tschernobyl verlegt. Zuerst mußten die jungen Soldaten Chemikalien auf die Straßen kippen, die angeblich die Radioaktivität binden sollten. Später halfen sie beim Bau des Sarkophags. Als Fahrer eines Betonmischers pendelte Pavel zwischen der hastig errichteten Fabrik in der Stadt Tschernobyl und dem Atomkraftwerk hin und her - an seinem Hals eine Kette mit Röhrchen, das die Strahlenbelastung aufzeichnen sollte. "Den Wagen haben sie später vergraben. Der war völlig verseucht."

Ein bißchen unheimlich war ihm der ganze Einsatz von Anfang an, gesteht Pavel. Aber andererseits spürte er auch den Reiz der Ausnahmesituation: Dinge zu sehen, die andere nie zu sehen bekommen, und Orte zu betreten, die völlig abgesperrt sind. "Das Obst war gigantisch." Pavel deutet mit den Händen die Größe einer Wassermelone an, um einen Apfel zu beschreiben. Und die Kirschen - faustgroß. "Fast wie im Paradies", kichert er und scheint einen Moment lang in die Jungmännerwelt einzutauchen. "Der Militärarzt hat gesagt, wir sollten die Früchte nicht mit bloßen Händen anfassen. Aber essen durften wir sie schon."

Auch zusätzliche Rationen an Schokolade und Wein gab es damals. Und weil man die Gefahr weder riechen, spüren oder sehen konnte, haben sich Pavel und seine Kumpel nicht allzu viele Sorgen gemacht. Jeden Tag erhielten die Liquidatoren, wie die Katastrophenhelfer offiziell genannt wurden, saubere Kleidung. Den Berechtigungsschein dafür hat Pavel, genau wie viele andere Erinnerungsstücke, in ein plüschbezogenes Album eingeklebt.

Anfang Oktober 1986 bekam er endlich seine Entlassungsurkunde. Die Vorgesetzten hefteten einen Blechorden an seine Brust und überreichten ihm einen Mundschutz mit dem Aufdruck "Tschernobyl". "Die Ärzte haben uns damals gesagt, daß wir drei Jahre lang keine Kinder machen dürften", erinnert sich Pavel. Fast hat er sich daran gehalten; seine Tochter ist inzwischen 17 Jahre alt, der Junge acht.

Es dauerte nicht lange, bis Pavels Gesundheitsprobleme begannen. 1991 konnte er nicht mehr arbeiten und war zum Vollinvaliden geworden - mit 25 Jahren. Auch seine beiden Kinder sind krank. Das Mädchen muß dauernd zum Arzt, weil die Nieren nicht richtig arbeiten. Der Junge ist sehr zart und leidet unter Immunschwäche.

Von Pavels alten Geschichten und Orden will die Familie nichts mehr hören. Auch deshalb trifft er sich regelmäßig mit ein paar anderen Männern aus Gomel im Selbsthilfeverein "Invaliden des Atomreaktors Tschernobyl". Die weißrussische Stadt mit etwa einer halben Million Einwohnern liegt 140 Kilometer nördlich des Reaktors inmitten des am stärksten verseuchten Landstrichs.

Vorn neben dem Eingang des kleinen Holzhauses hat der Verein einen kleinen Raum für den Arzt eingerichtet, der hier gelegentlich vorbeischaut und die Männer mehr oder weniger kostenlos berät. "Der Staat und die Gesellschaft erinnern sich immer weniger an uns. Dabei wird die gesundheitliche Situation immer schwieriger", sagt der Vereinsvorsitzende Alexander Lukowski - und meint damit alle 600 000 bis 800 000 Katastrophenhelfer, die aus der gesamten Sowjetunion zum Aufräumen nach Tschernobyl geschickt wurden.

Von den 750 Männern, die sich in Gomel vor 14 Jahren zusammengeschlossen haben, sind nur noch 300 übrig. "Die meisten sind gestorben, nur ein paar weggezogen", erläutert Alexander Lukowski. Einen Großteil habe der Krebs zerfressen, bei anderen das Herz nicht mehr mitgemacht. Der Vereinsvorsitzende zögert, bevor er hinzufügt: "Einige haben sich auch das Leben genommen."

Aus einer Schublade fördert Pavel eine Papiertüte mit drei Orden und eine Mappe mit Urkunden zutage. "In den ersten Jahren, da haben sie uns noch mit Auszeichnungen überhäuft." Auf einer knallroten Pappe prangt das Konterfei von Lenin, auf der Rückseite Pavels Name und die Ehrung, zu den Besten unter den kommunistischen Arbeitern zu zählen. "Sogar doppelten Lohn haben wir damals bekommen", berichtet Michael Masurkin, der früher bei der Miliz gearbeitet hat. Klinikaufenthalte zahlte auch der Staat - sogar im Ausland. Und wenn ein Helfer in den ersten Jahren nach seinem Einsatz eine Operation brauchte, war auch die selbstverständlich.

Die Zeiten haben sich geändert. Heute rühmen in Weißrußland nur noch Denkmäler den glorreichen Einsatz der - toten - Liquidatoren. "Alles andere gilt als zu teuer", beschwert sich Alexander Lukowski. Umgerechnet 100 bis 250 Dollar Rente bekommen die Männer im Monat; zuwenig, um die nötigen Medikamente für sich und ihre kranken Kinder zu finanzieren. Lukowski bräuchte dringend eine zweite Bypass-Operation. Doch die drei Jahreseinkommen, die ihn das kosten würde, hat der 60jährige nicht - es sei denn, er würde seine Wohnung verkaufen. Aber wo sollten er und seine Frau dann anschließend leben?

Pavel hat nun genug davon, immer nur über Probleme und Krankheiten zu reden "Wir dürfen unseren Humor nicht verlieren, das ist unsere Medizin", sagt er. Er kramt ein Familienfoto aus seiner Brieftasche und reicht es herum. Seine Frau und die beiden Kinder stehen etwas abseits von ihm. Niemand berührt sich. Die ganze Familie blickt starr in die Kamera. Keiner lächelt.