Zukunft: Alte Werte wieder da. Forscher: Angst vor Armut läßt die Deutschen enger zusammenrücken.

Hamburg. Deutschland rückt zusammen. Immer neue Belastungen durch höhere Steuern, steigende Gesundheitskosten und sinkende Löhne lassen die Menschen aus Angst vor Armut alte Sicherheiten wie Familie, Freunde und Nachbarn wiederentdecken. Diesen Trend sieht der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski für 2006. "In Deutschland hatte der Wohlstand- und Wohlfahrtsstaat viele der Aufgaben übernommen, die früher Familie, Nachbarschaft und Gemeinwesen geleistet hatten. Jetzt, in Zeiten knapper öffentlicher Kassen und gleichzeitig sinkenden Lebensstandards bei großen Teilen der Bevölkerung, deutet sich ein Umdenken an: die Renaissance von Familie, Freunden und Nachbarn. Die Familie wird zum Wohlfahrtsverband und die Gemeinschaft zum sozialen Rückhalt", sagt der Universitätsprofessor und Leiter des BAT-Freizeitforschungsinstitutes Hamburg.

Opaschowski leitet seine Prognose aus repräsentativen Umfragen seines Instituts ab: 45 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten praktische Nachbarschaftshilfe geleistet. 49 Prozent kündigten an, sie würden dies in Zukunft tun wollen. Der Gesellschaftsforscher erinnert an die Geschichte: "Wie in früheren Zeiten kommt es zu einer Neubelebung der Aktivität von informeller Nachbarschaftshilfe bis hin zu kleineren oder größeren Gemeinschaften. Früher gab es Hofgemeinschaften, Dorfgemeinschaften, Talgemeinschaften, Inselgemeinschaften, Zukunftsgemeinschaften und Landgemeinschaften.

Selbst für den Fall, daß eine Gemeinschaft einmal wegfiel, standen eine oder mehrere andere Gemeinschaften bereit, bei Bedarf oder in Notsituationen auszuhelfen. Das war eine geradezu notwendige Überlebensstrategie, die Generationen überdauerte und für soziale Stabilität sorgte trotz Pest, Hunger und Krieg." Die Gefährdungen der heutigen Zeit seien Arbeitslosigkeit, Wohlstandsverlust und Armut sowie Krankheit, Pflege und soziale Isolierung im Alter. Immer schneller breiten sich daher laut Opaschowski Hausgemeinschaften, Senioren-WGs und Generationenhäuser aus. Immer mehr Kinderlose suchten sich neue Wahlfamilien und Wahlverwandtschaften.

Opaschowski ringt den Gefahren auch gute Seiten ab: "Wohlstand ist nicht nur materieller Wohlstand." Die Menschen könnten Werte jenseits des Geldes wiederentdecken. Und: "Von Politik und Wirtschaft wollen die Bürger nicht mehr nur hören, was gerade noch geht, sondern klare Antworten auf die Frage bekommen, wohin es geht", sagt er. Die Wähler in Deutschland erwarteten "eine vorausschauende Politik, die in Zeiträumen von Generationen und nicht nur von Legislaturperioden denkt".