Kriminalpsychologie: Ein Gespräch mit dem Experten Thomas Müller über das Wesen von menschlichen Bestien. Er traf den Serienkiller Jeffrey Dahmer in Amerika und trank Tee mit dem “Säurefaßmörder“ Lutz Reinstrom in Hamburg. Dabei machte Müller ebenso bestürzende wie lehrreiche Entdeckungen.

Wien. Winter 1992. Thomas Müller sitzt mit seinem Begleiter, dem FBI-Profiler Robert Ressler, in einem schmucklosen Raum im Columbia Correctional Institute in Portage, Wisconsin. Sie warten auf Jeffrey Dahmer. Der blasse, unscheinbare Ex-Sanitäter aus Milwaukee hat sich bereit erklärt, den beiden Männern zu erzählen, was genau er zwischen 1978 und 1991 mit 17 jungen Männern angestellt hat.

Es war eine psychologische Geisterbahnfahrt. Thomas Müller (41) erinnert sich noch heute mit Schaudern an jenen Tag. "Dahmer hat uns in Bereiche mitgenommen, in die wir gar nicht mitwollten", sagt der Österreicher, inzwischen der Star unter Europas Kriminalpsychologen.

Dahmer hatte seine Opfer unter Drogen gesetzt, ihnen dann Löcher in den Kopf gebohrt und Säure hineingegossen. Die Leichen zerstückelte er. Die Köpfe bewahrte er in seinem Kühlschrank auf. Die Bizepse aß er auf - weil Menschenfleisch für ihn, so sagte er später aus, "wie Rindfleisch schmeckt".

Auf Müllers Frage, was denn in der ganzen Geschichte für ihn das unangenehmste gewesen sei, antwortete Dahmer, daß er nicht habe duschen können. Denn aus Platzmangel habe er Leichenteile in der Badewanne deponieren und dort mit Eiswürfeln kühlen müssen. Irgendwann sei das Eis aber geschmolzen.

Es ist eine Geschichte, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Eine Geschichte wie aus einem Horrorfilm. Nur mit dem Unterschied, daß diese Geschichte wahr ist. In Filmen ist es leicht, das Böse vom Guten zu unterscheiden. Im richtigen Leben jedoch tragen die Bestien Masken. Sie lassen sie aussehen wie nette, vertrauenswürdige Menschen. Das Böse ist wie eine Spinne, die auf Beute wartet: Wagt sich ein Opfer auf ihr Netz, ist es für immer verloren.

Was Müller und Ressler schlucken ließ, war vor allem, wie Dahmer den Ausflug in seine bestialische Welt erzählt hatte. "Der Mann war die Ruhe selbst", berichtet Müller. "Er beobachtete uns die ganze Zeit sehr genau. Und er hatte eine der manipulierendsten Stimmen, die man sich vorstellen kann. Ruhig, sanft. Die ideale Stimme im Radio, um das Sandmännchen für Kinder vorzulesen. Er hat uns plastisch in seine Gewaltsituationen mit hineingenommen."

An jenem Tag, sagt Müller, habe er verstanden, welche Gefahr darin liege, manipulieren oder - noch gefährlicher - antizipieren zu können. Da habe er erstmals eine Ahnung von der Dimension des Bösen bekommen. "Andere Menschen dahin zu bringen, wo sie gar nicht hinwollen - das ist die höchste Stufe der intellektuellen Waffe."

Dahmer ist es auf diese Weise gelungen, zwei Polizisten dazu zu bringen, ihm sein blutendes, nacktes und berauschtes Opfer Konerak Sinthasomphone wieder auszuliefern. Er überzeugte sie, daß sein schwuler Freund nur aus Liebeskummer in diesem Zustand auf die Straße gelaufen war. Sinthasomphones Kopf wurde später in Dahmers Gefriertruhe gefunden.

Müller weiß also um das Böse. Er studiert es seit mehr als 15 Jahren. Sein Fachgebiet ist die Tatortanalyse. Die Kunst, aus den Entscheidungen, die ein Täter am Tatort trifft, auf seine Persönlichkeit zu schließen. Müller ist auf diesem Gebiet zu einem weltweit gefragten Fachmann geworden.

Er hat Dutzende Gespräche mit Mördern geführt, Hunderte Orte grauenhafter Verbrechen studiert. Dabei ist ihm eine Sache klar geworden: Das Böse ist nicht offenbar. Es tarnt sich, es lügt, es geht strategisch vor. "Deshalb", erklärt Müller", ist es nicht entscheidend, was jemand sagt, sondern nur, was er tut."

"Woran erkennen wir das, was einer tut?" fragt er, seine Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen. "Indem er Handlungen setzt. Das läßt den Schluß auf das dahinterliegende Bedürfnis zu. Über das Bedürfnis schließlich können wir durch Vergleiche mit anderen Tatorten auf eine einzelne Person schließen." Das Bedürfnis ist also eine Art Code, der den Weg zum Täter weist.

Der Code des Bösen?

"Den Code des Bösen zu knacken hieße die Frage aller Fragen zu klären", wehrt er ab. "Das wäre vermessen." Er könne auch nicht wie ein Serienmörder denken. "Es gibt Menschen, die in Erfahrungswelten leben, die wir nie betreten können", zitiert er John Steinbeck. Man könne aber die Schuhe eines Täters benutzen, um sich so dem Bösen zu nähern.

Das Böse giert nach Macht über die Menschen. Es wohnt dann in ihm. In dieser Behausung konkurriert es jedoch mit dem Guten. Die Frage ist nur: Warum nimmt bei dem einen Menschen das Böse überhand und bei einem anderen nicht? Was entscheidet darüber, ob man ein perverser Mörder wird oder nicht?

Thomas Müller schweigt einen Augenblick. Dann sagt er: "Es kommt darauf an, wie wir in Extremsituationen behandelt wurden. Vor allem in den ersten sechs, sieben Lebensjahren. Diese Zeit erscheint mir als Maßgabe dafür, was später passiert. Wer hat sich da um einen wie gekümmert? Hatte er Rückhalt? Gute Freunde? Haben Eltern sich ausreichend um ihr Kind gekümmert? All das spielt eine Rolle, zu welcher Seite wir tendieren."

Viele Menschen glauben, andere Menschen einschätzen zu können. Beurteilen zu können, was jemand imstande ist zu tun. Nur weil jemand etwas sagt oder ein bestimmtes Aussehen hat. "Diese Arroganz ist der größte Fehler", sagt Müller. Das sei der Nährboden, auf dem das Böse gedeihen könne wie Unkraut nach einem kräftigen Sommerregen. "Wer glaubt erkennen zu können, was jemand in der Lage ist zu tun, hat die Tarnung nicht erkannt und ist zum potentiellen Opfer einer klassischen Lüge geworden, nämlich seiner eigenen."

Tarnung, Lüge, Strategie - das ist der Dreiklang des Abgründigen. So abgründig, daß sich Freunde, Nachbarn häufig wundern, wenn ein grauenvolles Verbrechen aufgedeckt wurde. "Der war das?", ist eine verbreitete Reaktion. "Der hat doch immer so nett gegrüßt. Das hätte dem doch keiner zugetraut."

Beispiele dafür gibt es genug. Marc Hoffmann etwa, der Mörder der Kinder Levke und Felix. Ein angepaßter, treusorgender Familienvater. Oder Frank Gust, der "Rhein-Ruhr-Ripper". Er hat vier Frauen zerstückelt und gehäutet. Seine Familie beschrieb ihn ebenfalls als liebevollen Ehemann und Vater.

Auch die mutmaßliche neunfache Kindermörderin Sabine H. aus Frankfurt/Oder gehört dazu. Sie hat es nach den bisherigen Ermittlungen offenbar geschafft, neun Schwangerschaften zu verheimlichen, neun Kinder zu gebären, zu töten und zu vergraben. Niemand hat es mitbekommen. Und das in einem Wohnblock, der überwiegend bewohnt ist von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern.

Bis ein Mensch jedoch so sehr wie all die bislang beschriebenen Verbrecher vom Bösen eingenommen ist, muß viel passieren. "Jeder Mensch könnte in eine Situation kommen, in der er einen anderen töten könnte", schrieb der Schriftsteller George Bernard Shaw einmal. "Aber der Weg vom Gedanken zur Durchführung ist weit", sagt Müller. "Der Gedanke muß reifen. Aus der Reifung muß der Plan entstehen. Aus der Planung die Vorbereitung. Aus der Vorbereitung der Entschluß. Und aus dem Entschluß die Tat."

Um diese Spirale des Todes in Gang zu setzen, benötigt man ein Motiv. "Das kann Haß sein, Gier, Macht, Einfluß, Demütigung", erklärt Müller. "Solche Motive können sich über Jahre aufbauen und sich dann von einer Sekunde auf die andere entladen." Etwa bei der betrogenen oder mißhandelten Ehefrau. "Die sagt dann eines Tages: Heute abend werden Pilze gekocht."

Anders ist es bei Sexualmorden. "Da ist eine Schwelle überschritten", sagt der Kriminalpsychologe. "Solche Menschen sind kaum mehr umkehrbar." Frauenmörder Frank Gust sagte es Müller so: "Wer einmal aus einer sexuellen Motivation heraus gemordet hat, der trägt diese Fähigkeit für immer in sich. Ich bin sicher, daß jeder Sexualmörder bei sich bietender Gelegenheit wieder zuschlagen würde."

Es ist der Zwang, der diese Todesspirale in Gang hält. Ein Zwang, der meist aus Vernachlässigung und Vereinsamung in der Kindheit entsteht. "Kinder kommen sehr schnell in eine Lage, wo sie mit belastenden Situationen nicht mehr umgehen können", sagt Müller. "In dieser Situation entstehen Phantasien. Das ist das einzige, mit dem sie noch zurechtkommen." Die Phantasien werden zunächst in Bildern oder Zeichnungen ausgelebt. "Irgendwann wird es aber zum Zwang. Dann wacht der Mensch morgens auf und denkt: Ich muß das ausprobieren. Die Phantasie muß so stattfinden. Mit dieser Form des Opfers. Mit diesen außergewöhnlichen Handlungen."

Das ist wie ein Dammbruch. "Andreas K., ein mehrfacher Frauenmörder, hat es mir einmal sehr plastisch erklärt", sagt Müller. "Auf meine Frage, warum ein Sexualmord alle Schwellen niederreißt, antwortete er: ,Weil diese Phantasien allumfassend sind. Sie dehnen sich aus wie das Weltall. Das ist wie ein Schloß mit 1000 Zimmern. Man lebt Tag für Tag in diesen Phantasien.'" Ein Mann wie Andreas K. geht in eines dieser Zimmer. Er findet das so interessant, daß er dann noch eins und noch eins sehen will. "Das ist ein Zwang, den man nicht beseitigen kann", sagt der Wiener Tatortanalytiker.

Was kann man tun? "Sehr früh anfangen, darauf Einfluß zu nehmen", antwortet er. "Wir müssen mit Kinder- und Jugendpsychiatern arbeiten, um Auffälligkeiten zu erkennen. Vereinsamungstendenzen, den Rückzug in fiktive Welten." Und das sei auch der Grund, weshalb er Tag für Tag in diese Abgründe blicke. In der Hoffnung, daß seine Arbeit irgendwann dabei hilft, dem Bösen seine Maske frühzeitig vom Gesicht zu reißen.

Doch bis dahin ist es für den stämmigen Mann mit der Reibeisenstimme noch ein langer Weg. Das hat ihm erst kürzlich Lutz Reinstrom wieder vor Augen geführt. Der Hamburger ist 1992 als "Säurefaßmörder" in die deutsche Kriminalgeschichte eingegangen. Reinstrom hat zwei Frauen ermordet, in Fässer mit Säure gelegt und in seinem Garten vergraben. Müller wollte verstehen, weshalb er das gemacht hat.

Deshalb kam er im Herbst 2003 in die Haftanstalt Fuhlsbüttel. Es war kalt draußen. Müller fror. Reinstrom bot Tee an. Müller griff dankbar zu. Das Gespräch lief gut. Bis Müller merkte: Er hatte eine Tasse nach der anderen getrunken. Reinstrom hatte seinen Tee nicht angerührt. "Das war eine Grenzerfahrung", gibt Müller zu. "Ich konnte nur noch daran denken: Will er mich vergiften?"

Es war kein Gift im Tee. Doch der Tatortermittler hat zehn Jahre nach seiner Begegnung mit Jeffrey Dahmer erneut eine Ahnung von der Macht eines Menschen bekommen, der die Gabe hat zu antizipieren. "Er beherrscht die Auffälligkeit in der Unauffälligkeit, die Eindeutigkeit der Doppeldeutigkeit", sagt Thomas Müller. "Und so grotesk es klingen mag: Aber ich muß von ihm lernen, um vielleicht einmal etwas verhindern zu können."