Tutanchamun: Sein Gesicht hat man jetzt rekonstruiert. Aber was weiß man sonst über den Pharao, mit dem eine Dynastie ausstarb?

Hamburg. Seine Grabkammer galt bei der Öffnung vor 83 Jahren als achtes Weltwunder, ihre Schätze ziehen jedes Jahr Millionen Schaulustige an: Rund 5000 Einzelstücke um einen Sarg aus 225 Kilogramm Gold, fünf Meter lang, 3,30 Meter breit, 2,75 Meter hoch - nach dem Urteil seines Entdeckers Howard Carter "die größte vergoldete Fläche, die es auf Erden gibt". Der junge Mann aber, dessen Mumie sich unter dem Gold fand, war unscheinbar, unansehnlich und unbedeutend: ein kümmerlicher Krüppel mit Eierkopf, überlangem Kinn und vorstehenden Zähnen, unselbständig, willensschwach und dauernd krank. "Das einzig Bemerkenswerte in seinem Leben", sagt Carter, "bestand darin, daß er starb und begraben wurde."

Bisher konnte die Ägyptologie von Tutanchamun kaum mehr als Geburts- und Todesjahr (1357/1338 v. Chr.) einigermaßen schlüssig nachweisen. Doch so karg die gesicherten Daten, so vielfältig die Thesen, Rekonstruktionen und Spekulationen. Jetzt veröffentlichte die Altertumsverwaltung in Kairo das erste, von einem Computer rekonstruierte Bild des rätselhaften Jünglings unter der goldenen Maske. Jüngste Forschungsergebnisse liefern dazu eine verblüffend detaillierte Biographie.

Tutanchamuns schlechte Gesundheit ist wohl Folge inzestuöser Gewohnheiten - zu seiner Zeit betrachten die Pharaonen Ehen mit Schwestern oder Töchtern nicht als strafbar, sondern geradezu als dynastische Pflicht zur Reinhaltung des vermeintlich göttlichen Blutes.

Sein Vater Amenophis IV., bekannter unter seinem selbstgewählten Namen Echnaton, teilt sein Lager auch mit der eigenen Mutter, Teje - Tutanchamun ist beider Sohn. Kindheit und Jugend verbringt der Junge unter der Fuchtel starker Frauen: Großmutter/Mutter Teje hält auch politisch alle Zügel in der Hand; die schöne Stiefmutter Nofretete, eine hellhäutige Prinzessin aus dem Reich der indogermanischen Mitanni im heutigen Syrien, dominiert ihren Ehemann Echnaton lange Zeit, und sie schenkt ihm sechs Töchter.

Tutanchamuns Tag beginnt schon früh: Sein Vater will die Sonne als neue Reichsgottheit etablieren und beobachtet mit seiner Familie jeden Morgen betend ihren Aufgang. Der Palast liegt in der neuen Residenz Amarna, mitten in fast vegetationsloser Wüste mit glutheißen Sommern und eiskalten Wintern. Die Heizung ist mangelhaft, Gelenkentzündungen drohen. Das Essen ist üppig, das Mehl für das Brot der Vornehmen wird besonders fein gemahlen - aber mit Sandkörnern, die beim Kauen den Zahnschmelz zerstören.

Der Knabe geht durch eine harte Schule: "Thot hat den Stock auf Erden gesetzt, um den Dummen darin zu unterweisen", lobt ein Gebet den Weisheitsgott, und ein Sprichwort rühmt elterliche Strenge: "Ein Sohn stirbt nicht durch die Schläge seines Vaters." Wenn der kleine Tutanchamun nicht geprügelt werden will, muß er fleißig lernen: nach Lesen, Schreiben und Rechnen auch Religion, Geographie, Strategie und die Weltsprachen seiner Epoche, Babylonisch und Hethitisch.

Sport gibt es noch nicht, aber die bei anderen Jungen beliebten kriegerischen Übungen wie Reiten, Fechten und Marschieren bedeuten für den schwächlichen Knaben viel Streß, denn eine rätselhafte Knochenkrankheit beginnt sich bereits auszuwirken. Abbildungen zeigen, daß der kleine Tutanchamun sogar beim Bogenschießen sitzen muß. Zur Entspannung spielt er gern eine Art Schach.

Aufs Herrscheramt wird er kaum vorbereitet: Sein Vater ist noch jung, Nofretete hofft auf eigene Söhne, und notfalls wird sie lieber eine ihrer Töchter auf den Thron setzen als den Stiefsohn. Kaum sieben Jahre alt, ist Tutanchamun auch noch Scheidungskind: Die Eltern trennen sich, Stiefmutter Nofretete zieht sich mit ihren Töchtern in einen eigenen Palast zurück. Der Junge bleibt beim Vater, der nicht mehr gesund ist: Echnaton leidet an Lipodystrophie, einer Krankheit, bei der das Unterhautfett am Oberkörper schwindet und dafür an Gesäß und Schenkeln zu wuchern beginnt.

Warum Nofretete den Ehemann verläßt, wird bald klar: Echnaton hat sein Herz an seinen Halbbruder Semenchkare verloren. Bilder zeigen die beiden bei Spaziergängen Hand in Hand und in zärtlicher Umarmung. Der Pharao nennt den Geliebten mit den weichen, weiblichen Gesichtszügen ganz offiziell "Neferneferuaton" ("Schön ist die Schönheit des Aton") - vorher führte Nofretete diesen Namen.

Als Echnaton seinen Geliebten zum Mitregenten erhebt, hat Tutanchamun kaum noch eine Chance auf den Thron. Doch dann sterben im selben Jahr völlig überraschend erst Semenchkare und dann der Pharao selbst. Nofretete handelt blitzschnell: Sie verheiratet ihre drittälteste Tochter Anchesenamun mit dem erst elfjährigen Tutanchamun - so kann sie der Dynastie den Thron bewahren, auf den auch schon zwei Außenseiter schielen: der alte Priester Eje und der junge General Haremhab.

Es ist die Zeit von Sinuhe, dem Ägypter, den viele aus Roman und Film kennen: Das Reich am Nil ist eine Weltmacht, aber innerlich zerrissen, eine Priesterkaste kämpft um weltliche Macht, das Militär will das Land zusammenhalten, die Herrscherfamilie verliert laufend an Autorität, und die meisten Entscheidungen liegen in den Händen hoher Höflinge. Tutanchamun enttäuscht Nofretete, ihm fehlt jede Kraft. Eine Elfenbeintruhe zeigt, wie seine Braut ihm Liebesäpfel reicht, doch Söhne bleiben aus, zwei zu früh geborene Mädchen werden im Grab ihres Vaters bestattet. Als Tutanchamun 19 Jahre alt ist, kann er sich nur noch an Stöcken fortbewegen, 130 sind erhalten.

Vieles deutet darauf hin, daß er ermordet wurde. Mit ihm stirbt die Dynastie in männlicher Linie aus. Seine Nachfolger werden erst der alte Priester Eje, der kurzerhand Tutanchamons junge Witwe heiratet, und vier Jahre später der tüchtige General Haremhab kraft Hochzeit mit Nofretetes Schwester. Der General ist es auch, der alle Erinnerungen an seine Vorgänger tilgen läßt - und damit auch jede Möglichkeit, etwas mehr über Tutanchamuns Taten zu erfahren.

So bleibt der junge Tote mit der goldenen Maske ein ewiges Rätsel - passendes Sinnbild für eine großartige, uns bis heute fremdgebliebene und vielleicht gerade deshalb so faszinierende Kultur.