Eine unliebsame Überraschung für viele Briten: Ihr ältestes Heiligtum wurde vermutlich von einem Einwanderer geschaffen, der aus dem heutigen deutschen Teil der Alpen kam.

Hamburg. Das alte England schrieb das Wunder der Erbauung von Stonehenge dem Zauberer Merlin zu. Manche tippten auch auf Riesen, Märchenfeen oder Flüchtlinge aus Atlantis. Spätere Forscher deuteten die 81 Sandsteinpfeiler nahe der südenglischen Stadt Salisbury als Säulen eines altbritischen Tempels für Sonne, Mond und eine Schlangengottheit. Wissenschaft und Fantasie machten den mythischen Ort auch zu Palast, Friedhof oder profanem Rinderpferch, mal als Opferstätte eingefriedet auf Geheiß weiser Druiden, mal umwallt auf Befehl römischer Quartiermeister als Zeltplatz für Cäsar. New-Age-Apostel sahen in den konzentrischen Kreisen lieber einen steinzeitlichen Computer, ein Schaltrelais für Magnetströme aus dem Erdinneren oder einen Ufo-Landeplatz. Nur eines kam in Jahrhunderten keinem Engländer in den Sinn: dass es sich um das Werk eines "Krauts", eines Deutschen, handeln könne. Jetzt, da jüngste Forschungen genau diesen Schluss nahe legen, bietet sich britischen Boulevardzeitungen Anlass zu publikumswirksamem Entsetzen. "Das ist ein ebensolcher Schock für unseren Nationalstolz, als wenn man herausfinden würde, dass die ersten Cricketspieler Lederhosen trugen und zum Tee Bratwürste aßen", klagte gestern der "Daily Express" unter der Überschrift "It's Steinhenge!" und fragte seine Leser und sich selbst: "War Stonehenge nichts als der Schauplatz eines Bierfestes?" Denn, so die für manchen Briten bestürzende Botschaft: Ein im vergangenen Jahr nicht weit von der sakralen Stätte entdecktes Skelett, von der Presse seinerzeit als Reliquie eines "Königs von Stonehenge" gefeiert, gehörte nach einem jetzt publizierten anthropologischen Befund vermutlich einem Fremdling aus dem (heute) deutschsprachigen Alpenraum. Darauf deuten Gegenstände hin, die sich im Grab des Toten fanden. Ein Sauerkraut-Ötzi als Architekt des ältesten Heiligtums Englands? "Es ist faszinierend, dass die Idee für Stonehenge von einem deutschen oder schweizerischen Einwanderer gekommen sein könnte", findet der britische Archäologe Tony Trueman ganz ohne nationalistische Scheuklappen. Eine solche Erklärung käme für Forscher auch weit weniger überraschend als für englische Journalisten: Die Megalithkultur, zu deren schönsten Zeugnissen Stonehenge gehört, entstand im Orient; ihre Erfinder wanderten über den Balkan nach Mitteleuropa und über Nordafrika nach Spanien und Frankreich. Um 5000 v. Chr. erreichten sie den Nordrand der Alpen, um 4000 v. Chr. Holland. Der Baubeginn für Stonehenge wird auf 2800 v. Chr. datiert. Zwar stehen in England auch ältere Megalith-Monumente, doch kann sich keines mit Stonehenge messen: Das mit gewaltigem Aufwand errichtete Heiligtum stellt einen technischen Quantensprung dar; Kenner sprechen von "Pyramiden des Nordens". Gut denkbar, dass das Know-how damals ebenso vom Festland kam wie heute jenes im Autobau. Bier und Lederhosen dagegen waren dem urigen England durchaus nicht fremd. Schon den Namen erhielt das rätselhafte Riesenrad mit seinen 33 Meter Durchmesser keineswegs vom urbritischen Sagenkönig Artus, sondern von dessen germanischen Gegnern: Die aus Schleswig-Holstein über die Nordsee gesegelten Angelsachsen fanden im 4. Jahrhundert auf dem Vormarsch durch die Ebene von Salisbury das Wort "Stonehenge" ("hängende Steine") für die massiven Decksteine auf den riesigen Pfeilern - für die beeindruckten Eindringlinge sah es aus, als hingen die tonnenschweren Blöcke in der Luft. Der Erzbischof Geoffrey von Monmouth, hoch gelehrter Chronist des 12. Jahrhunderts, requirierte Stonehenge schlau als Denkmal christlich-keltischer Krieger, die im Kampf gegen die heidnischen Angelsachsen gefallen seien. Der zechlustige Fuchsjäger John Aubrey aus Wiltshire, der dort am frühen Dreikönigstag 1648 mit einer fröhlichen Freundesschar vorüberritt, erkannte, dass die Steine ein Muster bildeten, und entdeckte die 58 "Aubrey-Löcher" voll weißer Kreidezeichen einer steinzeitlichen Erdreligion. Nach aktuellem Forschungsstand handelt es sich um die Ruine eines astronomischen Observatoriums zu kultischen Zwecken: Präzise Beobachtungen der Mond- und Sonnenläufe durch sternkundige Priester schufen und kontrollierten einen exakten Festkalender, um die günstigste Zeit für Aussaat und Ernte zu bezeichnen. Der Erde wurde geopfert, aber die Sterne schlugen den Takt. Die Priester liehen sich himmlische Autorität und ließen sich aus der Ernte entlohnen. Das Ergebnis waren blühende Landschaften bis Schottland und Wales, bis um 2200 v. Chr. jüngere Kulturen kamen. Seit ihrer näheren Erforschung ankert die Ära von Stonehenge als eine Art Goldenes Zeitalter im Bewusstsein vieler Briten. Dass das Symbol dieser seligen Vorzeit nun etwa einem zugelaufenen Oberschwaben zu danken sei, kränkt ihren Stolz. Doch hält die Wissenschaft von den uralten Steinen noch anderen Kummer bereit: Bis zum Ende der letzten Eiszeit war die Nordsee trockenes Land, der Rhein mündete irgendwo westlich Dänemarks, und England war keine seeherrschaftliche Insel, sondern eine simple linksrheinische Provinz.