100 Jahre nach der “Titanic“-Katastrophe. Das Abendblatt beschreibt die letzten Tage der “Titanic“. Heute: die Seereise bis zur Kollision.

Es gibt wenig zu erzählen über die Zeit nach dem Verlassen von Queenstown. Die See war ruhig, der Wind kam aus West bis Südwest, es war aber meist kalt, im Allgemeinen zu kalt, um an Deck zu sitzen und zu lesen oder zu schreiben, sodass viele von uns ihre Zeit in der Bibliothek zubrachten", erinnerte sich Lawrence Beesley an die ersten Tage der Überfahrt. Der Brite war Lehrer, Journalist und Autor, gewohnt, genau zu beobachten und seine Eindrücke zu notieren. Er überlebte den Untergang der "Titanic" und brachte schon im Juni 1912, also wenige Wochen nach dem Untergang, sein Buch "The Loss of the SS. Titanic" heraus.

Fast alle Passagiere vertrieben sich die Zeit während der ersten Tage auf dem neuen Schiff ähnlich wie Beesley, wobei es Klassenunterschiede gab. In der dritten Klasse war der Zeitvertreib urtümlicher, unbekümmerter. Beesley beobachtete: "Nach hinten sehend beobachtete ich oft, wie Dritte-Klasse-Passagiere fröhlich ihre Zeit verbrachten: ein sehr lärmendes Seilspringen eines gemischten Doppels war die große Zugnummer, während ein Schotte etwas auf seinem Dudelsack spielte. Von allen, die so glücklich auf dem Achterdeck spielten, bemerkte ich später nur sehr wenige auf der ,Carpathia'".

+++ Die Reise in den Untergang: Die letzten Bilder von Bord +++

Währenddessen erledigte die Besatzung ihre Bordroutine. Je weiter das Schiff nach Westen vorankam, desto stärker war die Gefahr von Begegnungen mit Eisbergen. Über Funk trafen sowohl am 12. als auch am 13. April 19012 mehrere Eiswarnungen ein. Die ersten beiden Meldungen kamen am 12. April von dem französischen Schiff "La Touraine" und am 13. April von dem Dampfer "Rappahannock". Kapitän Smith schenkte ihnen aber keine besondere Beachtung.

Die Seetage zwei und drei auf dem Atlantik vergingen ansonsten ohne besondere überlieferte Ereignisse. Das änderte sich erst am vierten Tag auf hoher See: Um 22 Uhr begannen Frederick Fleet und Reginald Lee am Sonntag, 14. April 1912, hoch oben im Krähennest, 50 Fuß über dem Vordeck, ihren Ausguckdienst. Da war der Himmel noch wolkenlos und klar. Später, gegen 23.30 Uhr, eine halbe Stunde vor ihrer Ablösung, kam direkt voraus leichter Dunst auf. Die beiden bemühten sich, mit ihren Blicken diesen Dunst zu durchdringen.

+++ Tag 1: Die Reise in den Untergang: Start mit vielen Hindernissen +++

Erschwerend kam für sie hinzu, dass sie ständig den eiskalten Fahrtwind in ihren Augen hatten, was die Sicht subjektiv verschlechterte, weil er ihnen Tränen in die Augen trieb. Es war während einer windstillen Nacht und bei ruhiger See ohnehin schwierig, rechtzeitig Eisberge zu erkennen. Denn unter solchen Bedingungen bildete sich kein heller Schaum von anbrandendem Meerwasser um den Berg, was ihn leichter erkennbar gemacht hätte. Später meinten Experten, der Ausguck hätte besser nicht in dem Krähennest gestanden, sondern auf dem Vordeck. Dort wäre der Eisberg möglicherweise eher aufgefallen, weil er sich vor dem sternenklaren Himmel abgehoben hätte. Ferngläser standen den beiden Männern nicht zur Verfügung. Sie gab es im Ausguck nur während der kurzen Fahrt von Belfast nach Southampton.

Plötzlich entdeckte Fleet einen Schatten recht voraus. Er läutete die Warnglocke, griff zum Bordtelefon auf der Steuerbordseite des Krähennests und meldete seine Beobachtung zur Kommandobrücke.

Dann spürten die beiden Männer, wie das Schiff zur Backbordseite hin abdrehte, außerdem einen kaum spürbaren Aufprall. Oben auf der Brücke hatte der Sechste Offizier Moody den Telefonanruf entgegengenommen und gab die Meldung an den Ersten Offizier William Murdoch weiter.

Der sprang zum Maschinentelegrafen, befahl, die Maschinen volle Kraft zurückzufahren, und rief zur gleichen Zeit dem Rudergänger zu: "Hart steuerbord!" Dann griff er zu dem Hebel, mit dem die wasserdichten Schotts automatisch geschlossen wurden.

Die Passagiere bemerkten kaum etwas von der Kollision. Viel dramatischer erlebten die Heizer diesen Beginn der Katastrophe. John Thompson berichtete später, er habe den Zusammenstoß in seiner ganzen Heftigkeit gespürt: " Meine Kameraden und ich wurden aus unseren Kojen auf den Boden geschleudert. Es war ein hartes, kratzendes Geräusch."

Eine Katastrophe hatte ihren Anfang genommen, aber ihr Anfang war so schleichend, dass ihn niemand bedrohlich fand und sich genötigt sah, alles daranzusetzen, sein Leben zu retten. Unter den Passagieren glaubte zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand an eine Katastrophe. Es war eine sternenklare Nacht mit ruhiger See, das Schiff lief während der ersten Zeit nach der Kollision nur langsam voll Wasser. So fühlten sie sich tatsächlich an Bord des Riesenschiffes sicherer als in den kleinen Nussschalen von Rettungsbooten.

Der Kapitän aber wusste zu dieser Zeit bereits, dass die "Titanic" nicht mehr zu retten war. Gemeinsam mit Chefkonstrukteur Thomas Andrews hatte er das Schiff inspiziert, und der Ingenieur sprach das Todesurteil.

Die Passagiere der dritten Klasse irrten durch die Gänge, manche von ihnen verstanden nicht, was die Stewards ihnen erzählten oder was auf Schildern geschrieben stand. Später, vor dem New Yorker Untersuchungsausschuss, sagte der Zweite Offizier Ligtholler aus, es hätte keine Sperren an den Treppen zur dritten Klasse gegeben und es seien bei der Besetzung der Boote auch keine Unterschiede zwischen den Klassen gemacht worden. Statistisch gesehen haben von den männlichen Passagieren der dritten Klasse 75 überlebt, aber von den vier Milliardären kein Einziger.

Obgleich die Offiziere wussten, dass zu wenige Rettungsboote für alle Menschen an Bord vorhanden waren, waren die ersten abgefierten nicht bis auf den letzten Platz besetzt. In der Aufregung hat niemand genaue Listen geführt, bei den angegebenen Zahlen handelt es sich nur um Schätzungen. Aber demnach sollen im ersten Boot, der Nummer 7, das um 0.45 Uhr zu Wasser gelassen wurde, nur 19 Menschen gesessen haben.

Die Werft hatte es für 65 Menschen zugelassen. Es lag zum einen daran, dass viele Frauen gar nicht in ein Boot steigen wollten. Offiziere befürchteten zudem, voll besetzte Boote könnten beim Abfieren in der Mitte auseinanderbrechen. Die Werft hatte zwar entsprechende Belastungstests durchgeführt, aber davon wussten die Offiziere nichts. In einigen Fällen hatten Männer neben ihren Frauen in nicht ganz gefüllten Booten Platz genommen.

Der Zweite Offizier Charles Lightoller auf der Backbordseite ließ auf keinen Fall Männer einsteigen, selbst wenn damit ein nicht einmal halb volles Boot gefiert wurde, weil keine weitere Frau bereit war, die "Titanic" zu verlassen. Auf der Steuerbordseite hingegen, wo der Erste Offizier Murdoch Aufsicht führte, hatten Männer, sogar viele Besatzungsmitglieder, eine bessere Chance, in ein Boot zu gelangen. Insgesamt wurden auf der Steuerbordseite mehr Menschen gerettet als auf der Backbordseite.

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