100 Jahre nach der Katastrophe: Die Abendblatt-Serie beschreibt die letzten Tage der “Titanic“. Heute: von Cherbourg bis Cobh.

Der erste Teil der Jungfernfahrt der "Titanic" war kurz. Er führte 77 Seemeilen quer über den Ärmelkanal ins französische Cherbourg, damals einer der großen europäischen Auswanderer- und Passagierhäfen. Die normannische Stadt hatte zwar einen modernen Hafen, dazu einen Seewall, der vor der Dünung des Atlantiks schützte. Aber für so große Schiffe wie die "Titanic" gab es keine ausreichend langen Piers oder Kaimauern. So ankerte die "Titanic" auf Reede vor der Stadt. Dennoch brauchten die Passagiere auf den gewohnten Komfort beim Einschiffen nicht zu verzichten. Es gab moderne Tenderboote.

Für die Zeitung "Belfast Telegraph" war auf dem Abschnitt nach Cherbourg ein Reporter mitgereist. Sein Bericht gibt die Eindrücke wieder: "'Seht mal, wie das Schiff schaukelt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die See so rau ist.' Die Stimme gehörte einer Dame, die sich auf dem Sonnendeck der 'Titanic' befand. Wir waren gerade an der Osthälfte der Isle of Wight vorbei und nahmen im Ärmelkanal Kurs auf Cherbourg.

Das Schiff, das diesen Ausruf hervorgerufen hatte, war ein großer Dreimaster, über dessen Bug die Brecher unentwegt donnerten. Dort, wo wir uns befanden, etwa 60 Fuß über der Wassermarke, gab es allerdings keinen Hinweis auf die Stärke der Dünung unter uns. Dies ist der erste nachhaltige Eindruck meiner Reise auf der ,Titanic' - und jeder, mit dem ich sprach, teilte ihn - ihre einzigartige Ruhe. Gäbe es nicht die steife Brise an Deck, käme man gar nicht auf die Idee, dass wir uns mit jeder Stunde 20 Knoten weiter auf unserem Kurs befinden. Es gab allerdings noch andere Dinge, die uns beeindruckten. Unzählige Decks und Appartements vermittelten das täuschende Gefühl, dass wir uns nicht auf See, sondern auf festem Land befanden.

Nach dem Dinner saßen wir in der Lounge und lauschten dem White-Star-Orchester. Die Musiker spielten Auszüge aus ,Hoffmanns Erzählungen' und 'Cavalleria rusticana', und mehr als einmal konnte man die Bemerkung hören: 'Man glaubt gar nicht, auf einem Schiff zu sein.' Es war noch schwieriger, sich vorzustellen, dass oben auf dem Oberdeck ein Sturmwind bläst.

Schließlich mussten wir aber doch zu Bett, und auf der 'Titanic' trifft dieses Wort im wahrsten Sinne zu. Nirgendwo waren die Kojen vergangener Tage zu sehen. Überall konnte der müde Reisende seine Ruhe in bequemen Eichenbetten finden. Dann folgte der morgendliche Sprung ins riesige Schwimmbecken. Lediglich die Kräuselung des lauwarmen Meerwassers deutete darauf bin, dass irgendwo in der Ferne 72 000 Pferde, als Dampfmaschinen getarnt, sich unter der Führung der Maschinisten abmühten. Nach dem Schwimmen brachte eine halbe Stunde in der Gymnastikhalle das Blut in Wallung und regte den Appetit für das Morgenmahl an.

Der Salon der 'Titanic' ist zweifellos wunderbar, aber die 2. Klasse ist es in nicht geringerem Maße und auf ihre Art die 3. Klasse ebenso. Ein Wort des genialen Zahlmeisters, und ich erhielt freien Zugang zu dieser schwimmenden Wunderwelt. Gemeinhin verbindet man Fahrstühle, Salons und Bücherhallen nicht mit der 2. Klasse, aber auf der ,Titanic' fanden wir all dies. Ich musste mich beim Steward vergewissern, dass wir uns tatsächlich in der 2. Klasse befanden.

Auf den gefüllten Decks der 3. Klasse fanden wir Hunderte von Engländern, Holländern, Italienern und Franzosen, alle in fröhlicher Brüderschaft vereint. Als wir uns zu ihnen gesellten, stellten wir fest, dass auch für sie die 'Titanic' ein Wunder war. Keine Gemeinschaftsräume mehr, sondern Hunderte von gemütlichen Zwei-, Vier- und Sechsbettkabinen, die Kojen alle mit hübschen rot-weißen Bezügen. Auch hier gab es Salons und Raucherräume, zweifellos weniger imposant als jene mittschiffs, aber dennoch bequem und mit ihren Drehstühlen und Einzel-tischen im Speisesaal kaum mit meiner bisherigen Vorstellung von Zwischendeckunterbringung in Einklang zu bringen.

Als wir uns in der klaren Morgenluft Queenstown näherten, die volle Dünung auf der Backbordseite, glitt das Schiff derart würdevoll durch den Atlantik, dass man die Bewegungen des Schiffes mit einem Schweben entlang des Horizontes vergleichen müsste!"

+++ Tag 1: Die Reise in den Untergang: Start mit vielen Hindernissen +++

Ganz so entspannt lief die tägliche Arbeit für die neun Männer rund um Thomas Andrews als Vertreter der Werft nicht. Sie reisten als technische Gruppe mit, um die Bordingenieure während der ersten Reise einzuarbeiten. Es waren die besten Männer von Harland & Wolff: William Henry Marsh Parr, stellvertretender Manager der Elektrizitätsabteilung; Roderick Chisholm, leitender Schiffszeichner; Anthony "Archie" W. Frost, leitender Maschinenbauer, und Robert Knight, der Chefinstallateur. Außerdem einige junge Männer, die noch in der Ausbildung waren. Sie sollten, wenn notwendig, handwerkliche Arbeiten ausführen.

In Cherbourg kamen einige der bekanntesten Passagiere der "Titanic" an Bord. Dazu zählte der 47 Jahre alte John Jacob Astor, damals einer der reichsten Männer der Welt. Ebenfalls in der ersten Klasse reiste Margaret (Molly) Tobin Brown, die durchsetzungsfähige Witwe eines Minenbesitzers aus Denver, die wohl das Herz auf dem rechten Fleck gehabt zu haben scheint, aber gesellschaftlich in ihrem Umfeld nicht anerkannt war. Unter falschem Namen reiste Michel Navratil mit seinen Söhnen Michel und Edmond. Laut Passagierliste hießen sie Hoffman. Er hatte diesen Namen angegeben, um seine Ehefrau, die er in Frankreich verlassen hatte, zu täuschen. Denn er wollte die Kinder mit in die Neue Welt nehmen.

Mit dem Tender kam auch eine große Zahl von Auswanderern aus Kroatien, Armenien sowie aus Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens an Bord. Diese Auswanderer zahlten zwar nur je 35 Dollar für die Atlantiküberquerung, aber ihre Masse zählte. Viele Reedereien jener Zeit verdienten mit den Auswanderern mehr Geld als mit den Erste-Klasse-Passagieren in ihren Luxuskabinen.

Schon 90 Minuten nach ihrer Ankunft lichtete die "Titanic" wieder ihre Anker und verließ am 11. April 1912 um 20.10 Uhr die Reede.

Im irischen Hafen Queenstown, dem heutigen Cobh, verließ eine Reisegruppe von sechs Erwachsenen das Schiff. Zu ihnen gehörte Francis M. Brown, Lehrer am Belvedere College und zukünftiger Priester. Deshalb wurde er Father Brown genannt. Als er von Bord ging, hatte er regelrecht Beute gemacht.

Der engagierte Amateurfotograf hatte während der kurzen Reise ausgiebig das Bordleben fotografiert und diese Aufnahmen sogleich in der schiffseigenen Dunkelkammer entwickelt. Da er bereits in Queenstown ausschiffte, blieben seine Fotos die einzigen, die vom Bordalltag der "Titanic" erhalten geblieben sind. Als die "Titanic" wieder auslief, machte Francis Brown ein letztes Foto. Das Schiff nahm Kurs auf die im Westen untergehende Sonne - wie in einem Filmdrama. Es war das letzte Mal, dass die Menschen von Bord dieses Schiffes aus Land sahen.

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