Chinas Superstar musste wegen hartnäckiger Achillessehnen-Entzündung noch vor dem Vorlauf aufgeben.

Peking. Kurz vor zwölf Uhr mittags rollte eine Schockwelle durch China. Es war der Moment, als der 25 Jahre alte Hürdenläufer Liu Xiang im Olympiastadion von Peking das Unternehmen Gold verletzt aufgab. Ein ganzes Volk litt mit ihm. In der U-Bahn-Linie 10 zog ein hysterischer Fan beim Anblick der Bilder vor Entsetzen die Notbremse, vor den Fernsehern im Lande brachen massenweise kreischende Männer und Frauen zusammen. In Büros und Fabriken ruhte für Minuten die Arbeit. Den 91 000 Augenzeugen im "Vogelnest" verschlug es die Sprache. Der Anfeuerungsruf "Jia You", jetzt geht's los, erstarb ihnen jäh auf den Lippen.

Liu Xiang hatte 2004 in Athen als erster Chinese eine Goldmedaille in der Leichtathletik gewonnen, die über 110 Meter Hürden, einer Disziplin, die im Reich der Mitte als amerikanische Domäne galt. Das zählte doppelt und dreifach. Er gewann in Weltrekordzeit, wurde 2007 im Freien und 2008 in der Halle auch noch Weltmeister. Liu stieg zum Volkshelden auf, um ein Vielfaches populärer noch, als es ein Franz Beckenbauer in Deutschland je war. Sein Triumph sollte alle bisherigen Erfolge Chinas in Peking krönen, das Gold werden, das alles überstrahlte. Die Erwartungen steigerten sich ins Unermessliche. Angeblich eine Milliarde Chinesen wünschten sich seinen zweiten Olympiasieg. Das ergab eine Umfrage Ende Juli.

Im Vorfeld der Heimspiele wurde Liu neben dem 2,29 Meter großen Basketballer Yao Ming zum Gesicht Olympias. Sein Konterfei fehlte in keiner Zeitung und kaum einem Fernsehspot. In Peking drapierten Kaufhäuser ihre Außenfläche mit seinen überlebensgroßen Porträts. Die Werbung für Autos, Sportschuhe, Softdrinks, Nahrungsmittel und Zigaretten machte Liu zum Multimillionär. Sein jährliches Einkommen wurde zuletzt auf umgerechnet zwölf Millionen Euro geschätzt, nach einem weiteren Olympiasieg hätte es sich wohl verdoppelt. Die Verträge waren unterschrieben. An alles war gedacht, jede Vorsichtsmaßnahme eingeleitet worden. Liu durfte sein Haus in den vergangenen Monaten nie allein verlassen, nicht Autofahren oder sich auf Massenveranstaltungen begeben. "Einkaufen gehen konnte ich nur im Ausland", sagte Liu. Ein Team von acht Spezialisten, Trainern, Ärzten, Physiotherapeuten betreute ihn.

Seinen Körper bekamen sie nicht mehr in den Griff. Der sollte zum größten Hindernis werden. Erst plagte ihn im Frühjahr erneut eine langwierige Oberschenkelverletzung, jetzt schmerzte seine chronisch entzündete Achillessehne wieder. Sie sollte Chinas Siegfried gestern endgültig niederstrecken. Keine Massagen, keine Spritzen noch Sprays halfen. Trotzdem trat er zum Vorlauf über 110 Meter Hürden in die Arena, kauerte sich in den Startblock - und hoffte. Nach einem Fehlstart, den ein Konkurrent verursacht hatte, nach vier, fünf schnellen Schritten, wusste er, dass er am Ende seiner Mission angekommen war, bevor sie begonnen hatte. Liu drehte vor der ersten Hürde ab, drehte sich um, riss sich die Startnummer vom Bein und humpelte unter Tränen an den konsternierten chinesischen Freiwilligen vorbei in die Katakomben des Olympiastadions zurück.

Sein Trainer Sun Haiping, der vor zwölf Jahren Lius Talent entdeckt hatte, trat derweil vor die Medien. Ein Weinkrampf erstickte seine ersten Worte, dann erklärte er das Unfassbare: "Am Sonnabend sind seine Schmerzen an der Sehne zurückgekehrt. Sie waren heftig, unerträglich. Ich bin stolz auf ihn, dass er trotzdem zu den Leuten rausgegangen ist und es versucht hat." Sun stockte und atmete tief durch. "Glauben Sie mir bitte", fuhr er fort, "es ging nicht, es ging absolut nicht." Schon vor zwei Jahren hätten die Ärzte bei Liu eine Wucherung am Fersenbein festgestellt. Sie sei konservativ behandelt worden, "die Probleme aber sind geblieben. Die Schmerzen haben immer wieder in den Oberschenkel ausgestrahlt. Wir mussten ständig mit dem Training aussetzen". Eine gezielte Olympiavorbereitung sei das nicht gewesen. "Vielleicht muss er jetzt operiert werden, damit er seine Karriere fortsetzen kann", sagte Sun.

Dayron Robles, der kubanische Weltrekordler über die 110 Meter Hürde, würde sich es wünschen. "Die Leute wollen große Duelle sehen. Ich hoffe, dass er bald wiederkommt", sagte er nach seinem Sieg im Vorlauf.

Filmberichte von den Olympischen Spielen