15.000 Menschen laufen Sonntag 42,2 Kilometer quer durch Hamburg. Sie werden Schatten- und Schokoladenseiten sehen. Eine Stadterkundung in Wanderstiefeln.

Es geht ein Riss durch die Stadt – und den Marathon. 22 Kilometer präsentiert sich Hamburg als Großstadt am Wasser, zeigt stolz Elbe und Hafen, inszeniert die Alster als urbanen Fluss, führt die Läufer durch die Magistralen der Metropole. Doch dann, kurz hinter der Hälfte des 42,2 Kilometer langen Rundkurses, verliert sich das urbane Flair. Von der Sierichstraße geht es auf die Maria-Louisen-Straße, rechts grüßt noch das Johanneum, und plötzlich wird es ländlich. Hinter der Barmbeker Straße, nur wenige Hundert Meter vom pulsierenden Leben entfernt, wähne ich mich im Wald. Eben noch bin ich durch die Millionenstadt spaziert, jetzt laufe ich durch die Natur. Eineinhalb Kilometer führt der Weg am Stadtpark entlang, einem grünen Paradies und einem für Sportler aller Art. Im Stadtparksee kraulen die Schwimmer, Freizeitjogger ziehen ihre Runden, Kanuten paddeln übers Wasser, und Inlineskater mit Stöcken rollen in atemberaubendem Tempo vorbei. Sportler, wohin ich blicke. Der moderne Großstadtmensch ist kein Mannschaftssportler mehr, er läuft, schwimmt, paddelt allein; wie zum Beweis der These gleicht ein Fußballplatz am Südring eher dem Truppenübungsplatz einer Maulwurf-Hundertschaft.

Die Beine werden schwerer, die Meter eintöniger. Das Stadtparkpanorama mit Sicht aufs Planetarium bei Kilometer 24 gilt es zu genießen, danach verdünnen sich die Impressionen. Eben glich die Stadt einem Wimmelbild, nun eher einem TV-Testbild. Auf der Saarlandstraße spüre ich Tristesse. Zwar grünt links der Stadtpark und rechts illustrieren Kräne die wachsende Stadt, doch die Straße gleicht einer zu breiten Schneise. Es gibt nur wenig, was Augen und Gedanken Halt schenkt.

Barmbek hinterm Rübenkamp wirkt da wie eine Abwechslung. Endlich wieder Stadt, wenn auch eine andere, als die man zurückgelassen hat. Nicht das wohlhabende Othmarschen, das hippe Ottensen oder das gediegene Winterhude, sondern bodenständiges Barmbek. Hier heißen die Kneipen „Erdgeschoss“, die Straßen „Ole Enn“. Im Straßenbild regiert der Rotklinker, die Straße die SPD. Hier plakatieren nur Sozialdemokraten und laden selbstbewusst aufs rote Sofa. Auch die Einkaufsmeilen sehen anders aus. Die Fuhlsbüttler Straße ist weder 1-a- noch 1-b-Lage, und doch bietet sie etwas, das in der Innenstadt rar geworden ist. Läden tragen echte Namen, die Namen der Inhaber.

Wandern durch die City Nord – einmal Mond und zurück

Der Marathon hinterlässt auch hier Spuren: Die blauen Striche weisen gen Norden, die Schilder kündigen das Parkverbot an. An der Filiale der Haspa weist ein Schild auf den „Zieleinlauf“ hin. Seit 2010 ist die Hamburger Sparkasse der Hauptsponsor des Sportereignisses. In der Vergangenheit hatten die Paten fast so häufig gewechselt wie die Cheftrainer beim HSV. Was als Hanse-Marathon begann, hieß später Shell-, Hansaplast-, Olympus-, Conergy- und schließlich Möbel-Kraft-Marathon. Die Haspa versteht sich nicht nur als Namenspatron, sondern als Taktgeber an der Strecke. Die Sparkasse an der Fuhlsbüttler Straße 350 lädt am Sonntag zum Frühstück ein. Filialleiter Jörg Szameitat ist den Marathon selbst zweimal gelaufen, nun kocht er am Streckenrand Kaffee. „Auch wenn der Marathon nun von der Haspa gebrandet ist, die 42 Kilometer schüttele ich jetzt nicht mehr aus dem Ärmel“, sagt er. An die Stimmung in Barmbek kurz vor Kilometer 26 kann er sich noch gut erinnern. „Hier wird man noch von der Begeisterung der Zuschauer getragen“, erinnert er sich. „Der Mann mit dem Hammer kam später – an der Alsterkrugchaussee. Mir tun jetzt noch die Oberschenkel weh, wenn ich daran denke.“ Bis zur Alsterkrugchaussee ist es noch ein weites Stück. Es ist keine Wegstrecke für Ansichtskarten, Buchumschläge oder Leinwände, es gleicht eher einem Vorort, Hinterland. Hinter dem Krankenhaus Barmbek an der Hebebrandstraße stehen lang gestreckte eingeschossige Mietshäuser vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihr Name passt zur Strecke: Sie heißen Langer Jammer.

Unter Hochspannungsmasten ziehe ich weiter Richtung City Nord. Das Stadtbild zerfasert. Hinter dem S-Bahnhof Rübenkamp liegt eine Konfliktlinie des 21. Jahrhunderts. Die Kleingartenkolonien des Vereins „Heimat“ sind in Zeiten des Wohnungsmangels in den Fokus der Stadtplaner geraten. Plakate proklamieren: „Eden für jeden“, die „wachsende Stadt schafft nur wachsende Probleme.“ Wo endet der berechtigte Kampf um das eigene Stück Grün, wo beginnt der Egoismus? Ich würde es gern mit den Kleingärtnern diskutieren. Doch der „Eden für jeden“ hat mehr Verbotsschilder als ein Langstreckenläufer Blasen an den Füßen: „Kein öffentlicher Weg“, steht dort. „Einfahrt nur für Mitglieder“ und: „Stop – kein Durchgang“.

Also weiter. Am Horizont wächst die Geschäftsstadt Nord in den Himmel, die längst City Nord heißt. Dort lässt sich eine Utopie besichtigen – das Ideal der gegliederten Stadt, die Leben, Arbeiten und Erholen trennt. Was vor 50 Jahren die Lösung für viele Probleme der Hansestadt war, wirkt heute selbst wie ein Problem. Der Beton ist verwittert, die Geschmäcker haben sich verändert. Um die Fußgänger von den Straßen fernzuhalten, überspannen mächtige Brücken die Straßen, die nach weiter Welt klingen: Überseering, Sydneystraße, Limaweg. Die City Nord steht für einen Zeitgeist, der uns fremd geworden ist. Einige Brücken sind so hässlich, dass die Graffiti sie verschönern. Hier an Kilometer 28 möchte man als Läufer nicht aussteigen, hier möchte man nur noch weg – und zwar schnell.

Scharf rechts geht es auf die Hindenburgstraße – darf man heute noch so heißen? Die Politik hat jüngst einen Kompromiss gefunden: Der nördliche Teil darf weiterhin den Namen des umstrittenen Generalfeldmarschalls tragen, weiter südlich wird die Magistrale nach dem Sozialdemokraten Otto Wels benannt. Als Spaziergänger stelle ich mir andere Fragen. Wie weit ist es noch? Und warum riecht man den Döner am U-Bahnhof Alsterdorf schon aus 200 Meter Entfernung?

Zumindest im Geiste atmet man auf. Je mehr Augenfutter der Kopf bekommt, desto weniger schmerzen die Füße. Die Stadtlandschaft wird grüner, weicher, anmutiger; man wähnt sich zurück vom Mond. An Kilometer 29 hat mich die Idylle wieder, die Strecke biegt auf die Rathenaustraße. Links fließt die Alster, am gegenüber liegenden Ufer fallen Gärten sanft zum Fluss ab, das diesseitige Ufer gehört der Allgemeinheit. Man möchte verweilen, der Moment ist so schön. Ich muss im Laufen genießen – zwei Kilometer bis Ohlsdorf spendieren die Streckenplaner das Alsteridyll. Wer weiß, was danach kommt, inhaliert die Eindrücke.

Denn der Marathon hat für Flaneure wie Läufer noch einige Gemeinheiten parat. Kurz vor Kilometer 31 passiert man den U- und S-Bahnhof Ohlsdorf. Hier könnte man mit einem Ausfallschritt aussteigen und per Zug ins Ziel rollen. Knapp zehn Prozent der Sportler geben beim Marathon auf. Für die anderen beginnt nun der Leidensweg. Dort, wo der zitierte „Mann mit dem Hammer“ wartet, der die Sportler an die Grenzen führt, regiert die Ödnis. Die Kilometer 31 bis 35 sind die vermutlich härtesten des Hamburg-Marathons. Hinter der Alsterschleuse läuft man den Maienweg entlang. Hier kann man schön wohnen, aber schlecht laufen. Die Alster liegt zwar in Wurfweite, ist aber von der Strecke kaum zu sehen. Dem Läufer geht das Augenfutter aus. Noch trister wird es auf der Alsterkrugchaussee. Hinter den Häusern fließt die Alster durch die Gärten, hier möchte man flanieren, pausieren. Rechts der Straße liegt das verwunschene Eppendorfer Moor mit seiner Wildnis. Die Läufer müssen sich über die breite städtische Einfall-straße kämpfen – immer geradeaus. Der Marathon ist ein Straßenrennen, ein Spaziergang ist er nur für Asphaltjunkees. An Kilometer 35 würde ich mich nicht mehr wundern, wenn gleich das Ortsausgangsschild käme oder der Weg auf eine Autobahn böge. Die Straße wird breit und breiter.

Nur wenige Meter weiter ist die Stadt wieder da. Rechts und links rahmen Altbauten aus der Gründerzeit die Tarpenbekstraße ein – das hatte ich zuletzt vor 15 Kilometern in Winterhude gesehen. Wie Pionierpflanzen haben Handwerker und Händler die Erdgeschosse besiedelt – Antiquitäten gibt es hier, Secondhandmode, eine Reinigung, ein Kiosk. An der Ecke Kegelhofstraße, kurz vor Kilometer 36, stehen die Stühle der Espresso-Bar Azzuro in der Sonne. Noch ist es ruhig. „Aber am Sonntag ist hier der Teufel los“, sagt Marco Atzeni. „Hier ist ein beliebter Platz zum Schauen.“ Atzeni wird Bier und Wurst reichen; ein Stammkunde läuft den Marathon mit, er will das Trikot seines Italieners tragen. Per SMS hat er sich vom letzten Training gemeldet und einen Espresso bestellt: „Ich werde ca. 12 Uhr bei Dir vorbeilaufen“. Atzeni ist vorbereitet. Von nun an werden die Zuschauer die Läufer mit ihren Anfeuerungsrufen, ihren Rasseln ins Ziel tragen. Der Wanderer ist allein. An Kilometer 37, dem Eppendorfer Baum, präsentiert sich Hamburg jeden Tag als lebendige und quirlige Großstadt. Eppendorf ist Treffpunkt und Lebensraum für Flaneure und Stadtbummler, Müßiggänger und Tagediebe, Bonvivants und Babyschieber. Nach den langen Kilometern draußen möchte man meinen, ein Eppendorfer habe die Marathonstrecke geplant, um seinen Stadtteil ins rechte Licht zu rücken. Den Eppendorfer Baum herunter schlendere ich zum Klosterstern – wie gut es ist, hier nicht laufen zu müssen, sondern innehalten zu dürfen. Ortskundige würden jetzt über die Hochallee direkt zur Messe rennen, die blauen Striche aber weisen einen anderen Weg: Über den Harvestehuder Weg geht es zur Außenalster. Auf den letzten Metern schneidet Hamburg noch etwas auf. Hier wohnt man nicht, man residiert: Große Bauschilder versprechen weiße Luxusvillen vor blauem Himmel, hier plant der Stararchitekt Chipperfield, daneben wächst das Projekt H 36, dort entstehen die neuen Sophienterrassen. Selbst die Baustellenzufahrten wirken imposant. Von hier aus sind es noch rund 3,6 Kilometer, eine halbe Asterrunde, ins Ziel. Wer kann, sollte den Blick über den Alsterpark genießen: Hamburgs Wasserseite liegt den Läufern zu Füßen – auch wenn die Füße schmerzen.

Hamburgs Sehenswürdigkeiten flirren am Ende vorbei

Am Mittelweg – so will es der Zufall – ließen sich diese noch behandeln. Denn der Notdienstkalender hat Carjells Apotheke hinter Kilometer 40 den Marathonsonntag zugeteilt. „Ich bin gerüstet“, sagt Apothekerin Claudia Koenig. „Magnesium, Pflaster, Bandagen und Schmerztabletten liegen bereit“, sagt sie. Ob der Marathon ihr zusätzliche Kundschaft bringt oder wegen der erschwerten Erreichbarkeit Umsatz kosten wird, weiß sie nicht. „Ich denke, es ist eher positiv“, glaubt Koenig. Die Handelskammer ermittelte für den Marathon 2008 zusätzliche Einnahmen von 15 bis 35 Millionen Euro.

Derlei Zahlen bewegen hinter dem Dammtor weder Läufer noch Flaneur. Vom Stephansplatz bleiben nur noch 1000 Meter ins Ziel, aber die haben es in sich. Langsam steigt die Straße an, die Sehenswürdigkeiten flirren vorbei. Das Ziel Telemichel ist zwar oft zu sehen, rückt aber nicht näher, da die Strecke einen Bogen schlägt. Man läuft an Planten un Blomen entlang, diesem wunderschönen Souvenir vergangener Gartenschauen. Nur seltsam, dass sich der Park zum Gorch-Fock-Wall hinter einem hohen Zaun verbirgt, der von Stacheldraht gekrönt ist, als sei Planten un Blomen die Grünfläche des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis.

Die letzten Meter, an der Laeiszhalle rechts ab, beschwingen sogar mich Wanderer. Wie groß muss das Gefühl eines Läufers sein? Er hat eine unbezwingbar anmutende Strecke bezwungen. Den inneren Schweinehund überwunden. Großes geschafft. Nur, was hat er vom Gesamtkunstwerk Hamburg gesehen – außer Streckenposten, Jubelhanseaten, blauen Strichen und gepinselten Kilometermarken? Zumindest in dieser Disziplin siegt der Flaneur.